Wir schaffen uns die Welt, die wir brauchen

Machtkritisch. Mutig. Miteinander.

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von Jocelina Ndimbalan, July 25, 2025
Wir schaffen uns die Welt, die wir brauchen

Header: Alushi Kanaan

Reina-María Nerlich ist zweifache Co-Gründerin in Berlin im Bereich Demokratiebildung und Community Building. Reina lernte ich im letzten Jahr durch unser Collective Action Projekt "Das letzte Puzzlestück" kennen und gewann seitdem einige schöne und inspirierende Einblicke in ihre Arbeit bei duvia e.V. und im anígo SPACE. Weil ich selbst manchmal nicht fassen kann, was für facettenreiche, inspirierende und interessante Menschen ich um mich herum habe (ein Hoch auf die tbd* und UBL Community), wollte ich es jetzt einmal genauer wissen und ein Gespräch, wie wir es sonst im Park oder beim Tee in der Küche führen würden, mit der Welt teilen.  Entstanden ist ein Gespräch über Co-Gründung, wertschätzende und diskriminierungssensible Arbeitskultur, Bildungsarbeit in Berlin, System Schule, Allyship und Identität.
Das Interview ist in drei Teilen veröffentlicht worden. Viel Spaß mit Teil 3

Wir kennen uns ja durch unser Projekt “Das letzte Puzzlestück” durch die 10.000 Tage Initiative von Project Together. Ihr habt mit Schüler*nnen gearbeitet, wir Unternehmen rassismus- und klassismussensibel geschult, bevor wir die beiden Zielgruppen dann durch ein Praktikum zusammengebracht haben. Ich musste gerade daran denken, dass du einmal meintest: “Wenn das System strukturell versagt, leiden vor allem die Schüler*innen” – gerade migrantische Schüler*innen, die zustäzlich oft noch von Klassismus betroffen sind, werden dann entweder übersehen oder stigmatisiert. 

Wir sagen immer: Wir denken Demokratiebildung diskriminierungssensibel. Das heißt für uns: Wir wollen da ansetzen, wo die Zielgruppen stehen. Die sind in sich natürlich auch unendlich divers. Ich glaube, es führt oft zu Frust in der Demokratiebildung, wenn gesagt wird: Wir haben einen Partizipationsmoment geschaffen, aber niemand wollte mitmachen. Aus meiner Sicht wird zu selten gefragt: Warum wollen sie denn nicht mitmachen?

Wenn Menschen durch gesellschaftliche Diskurse, durch ihre Lebensrealitäten immer wieder gespiegelt bekommen: 
- Erstens, du bist nicht wirklich Teil der Gesellschaft.  
- Zweitens, in deine Fähigkeiten wird sowieso nicht investiert. - Drittens, du wirst permanent abgewertet – strukturell und individuell – dann ist es gerade in der Pubertät verständlich, dass sich Kinder und Jugendliche denken: “Warum sollte ich mich gerade jetzt vom Hocker reißen lassen, wenn jemand kommt und sagt, hier kannst du partizipieren?"

Deswegen brauchen wir andere Methoden, andere Ansätze. Unserer ist es, bestimmt zu sagen: “Ihr könnt so viel. Lasst euch nicht einreden, dass ihr nichts könnt. Eure Perspektiven sind wertvoll! Wir brauchen sie in unserer Gesellschaft. Schau du, ob du sie einbringen willst und kannst. Das ist deine Entscheidung. Uns ist wichtig, dir zu zeigen: Du kannst was – und Selbstwirksamkeitserfahrungen zu schaffen”.

Ich finde es krass, wie wenig Schulen dafür vorbereitet sind. Nach der Korrektivrecherche hat uns eine Schule angerufen und gesagt: Könnt ihr uns helfen? Unsere Schüler*innen sagen: “Warum sollen wir uns noch anstrengen, wir werden doch sowieso bald abgeschoben.” Wie erschreckend ist das?

Schulen haben nicht die Kapazitäten, das aufzufangen. Da arbeiten pädagogisch ausgebildete Menschen, aber sie werden vom System in so viele andere Prozesse eingebunden, dass sie das nicht auffangen können. Es geht nicht um Schuldzuweisung, sondern darum, dass sich Schulen extrem öffnen müssten, um Schüler*innen gerecht zu werden. Aber das kann nicht nur auf dem Rücken von Lehrkräften passieren!

Da sprichst du was Wichtiges an. Vielleicht geht das auch mit dem einher, das wir jetzt gerade ganz stark erleben: die Kürzungen in Berlin, auch im Bildungsbereich. Wie betrifft das bei duvia e.V.?

Wir hatten im letzten Jahr die Situation, dass wir auf einmal auf Null gesetzt waren. Das hätte für uns das Ende bedeutet. Wir hätten unentgeltlich arbeiten müssen. Dann stellt sich natürlich die Frage: Wie lange kann man das machen? Wie viele Rücklagen hat man? Wie lang will man das machen? Dieses Jahr sind wir bisher nicht davon betroffen. Aber das heißt nicht, dass es uns nicht trotzdem was angeht. 

Erstens haben wir unglaublich tolle und wichtige Kooperationspartner*innen. Ich bin so dankbar, dass Berlin so eine breite Landschaft an Trägern hat, die alle ihre unterschiedlichen Stärken haben und verschiedene Themen bespielen. Wir sagen den Schulen immer: Schaut mal, neben uns gibt es noch die, die und die.

Wir geben dann weiter, wenn unsere Expertise geringer ist als die anderer. Ich weiß, dass das viele Träger so machen. Und das ist eine riesige Chance. Keiner kann alle Schulen bespielen. 

Aber das Fatale ist: Da, wo jetzt gekürzt wird, kommen die Träger im schlimmsten Fall nicht wieder. Die Expertise, die sie über Jahre aufgebaut haben, geht damit verloren.

Und das zu einem Zeitpunkt, an dem wir anhand der Wahlergebnisse sehen wie sehr von Rechts auf Stimmenfang bei Jugendlichen gegangen wird. Wir brauchen eigentlich mehr Bildungsarbeit, mehr Jugendtreffs, Jugendclubs, mehr Sozialarbeit an Schulen, mehr psychologische Betreuung, mehr kulturelle Bildung. Aber genau das sind die Bereiche, in denen jetzt gekürzt wird. Das ist absurd. Dieses Vakuum, das an vielen Stellen – leider meist an den prekärsten – entsteht, wird dann gerne von extremistischen Kräften genutzt. Die freuen sich darüber. Es ist krass, dass wir das als Stadt – und im übertragenen Sinne auch als Gesellschaft – in Kauf nehmen. Das macht mir auf jeden Fall Angst.

Wir haben uns ähnliche Fragen gestellt bei tbd*. Wir dachten uns: “Hey, gerade im Social Impact Bereich arbeiten doch schon einige an unterschiedlichsten Stellen an einer gesunden, gerechteren Gesellschaft. Wie kann es sein, dass wir gesellschaftlich so krasse Rückschritte machen?” Unsere Antwort darauf ist, dass wir glauben, dass viele Lösungen meistens aus einer sehr privilegierten, homogenen Bubble heraus konstruiert werden. Dadurch werden dann ganz viele Menschen nicht mitgedacht oder übersehen – im schlimmsten Fall absichtlich.

Auf jeden Fall. Ich denke mir aber auch oft: Wie würde es aussehen, wenn wir alle nichts machen würden? Es könnte ja noch viel schlimmer sein. Und ich glaube, dass es nicht noch schlimmer ist – denn Deutschland bietet leider den perfekten Nährboden dafür –, ist sehr vielen zivilgesellschaftlichen und gemeinwohlorientierten Initiativen, Unternehmen, Organisationen zu verdanken, die da seit Jahrzehnten gegenhalten und versuchen, was zu reißen.

Oh ja, du hast recht! Müssen wir in das System reingehen und versuchen, es von innen zu verändern, oder braucht es eigentlich mehr Gründung, um von außen zu bespielen – indem man einen Space oder Verein wie duvia gründet, der dann von außen Angebote schafft?

Ich glaube, es braucht beides. Es braucht auch gute Leute im System, auf jeden Fall. In meinem persönlichen Fall war es so, dass ich als Lehrkraft tätig war und dann gemerkt habe: Ich habe das Gefühl, das reicht mir nicht. Zu oft werde ich Teil dieses Systems, das ich eigentlich ändern will.

Dann habe ich mich entschieden, rauszugehen und hatte die Möglichkeit, bei Duvia meine Lohnarbeit anzudocken. Ich ziehe den Hut vor allen, die sich aktiv entscheiden: Ich bleibe im System. Wenn es auf beiden Seiten viel mehr Leute gibt, ist schon viel erreicht. 

Es braucht auch mehr Menschen, die weder betroffen sind von Rassismus und Diskriminierung noch beruflich dazu arbeiten, die es aber auch schlimm finden, wohin sich unsere Gesellschaft bewegt. Auch sie müssen in ihre Kontexte reingehen und die Themen dort auf den Tisch setzen – beharrlich und kritisch.

Das fehlt mir noch zu sehr. Ich kenne zu wenige Leute, die in Unternehmen arbeiten, die gar nicht auf Gemeinwohl abzielen oder demokratische Themen in den Fokus stellen, und die sagen: Unser Unternehmen engagiert sich, unser Unternehmen tut etwas. Ich weiß, dass es das gibt, aber es könnte viel mehr sein.

Also eigentlich Allyship. Tatsächliches Allyship von Menschen, die sich nichts davon versprechen, außer eine bessere Welt, wenn man es mal plakativ sagt.

Auf jeden Fall. Und auch Allyship in Bereichen, in denen das große Geld liegt. Wenn ich mit Freund*innen spreche, die in Wirtschaftsunternehmen arbeiten, in denen die Gelder, mit denen wir ein ganzes Jahr Projekte umsetzen, eine kleine Ausgabe sind: Da geht es um ganz andere Summen.

Wir haben gemeinsam mit Tebalou und morediversity die 1000-Kitas-Kampagne für mehr Diversität in der frühkindlichen Bildung ins Leben gerufen. Wir haben Bücher- und Spielzeugboxen im Wert von 500 Euro für Kitas kostenlos zur Verfügung gestellt und dafür Unternehmen für das Sponsoring gesucht. Es war total herausfordernd, genug Unternehmen zu finden, die sich als Sponsor*innen bereit erklärten. Das ist doch absurd. 

Alle reden immer davon, “Kinder sind unsere Zukunft und Diversität ist wichtig”. Dann kann es doch nicht sein, dass da so wenig Engagement – ob finanzieller oder zeitlicher Art – gezeigt wird. Wenn wir wirklich Schlimmeres gesellschaftlich verhindern wollen, muss da viel mehr passieren.

Das ist ein wichtiger letzter Appell!

Bevor wir zum Ende kommen verrate uns doch: Worauf können wir uns, was den anígo Space und duvia e.V. angeht, noch freuen? Und natürlich: Wie können euch Menschen unterstützen?

Im anígo Space wollen wir eigene Veranstaltungen zu migrationsgesellschaftlichen Fragen, Anidiskriminierung und Empowerment umsetzen. Migrantische Perspektiven sollen eine Bühne finden. Darauf freuen wir uns und auch wenn viele Leute zu den Veranstaltungen kommen.

Den anígo Space kann man unterstützen, indem Menschen diesen Raum mieten und den regulären Preis zahlen. Dadurch ermöglichen sie uns, unsere Bildungsarbeit in diesen Räumen zu realisieren,  z.B. mit Jugendlichen oder mit unseren Teamer*innen. Wir wünschen uns, dass wir irgendwann so viele Buchungen haben, dass wir ganz vielen Projekten und Initiativen, die für einen positiven, diversen gesellschaftlichen Wandel arbeiten, sagen können: Ihr könnt die Räume kostenlos nutzen.

Wir machen das zum Teil schon, weil unser Netzwerk groß ist. Wir suchen aber noch Menschen, die ihre Veranstaltungen bei uns machen und bezahlen, z.B. Unternehmen.

Indem man also sein Team-Event, seine Strategietagung, seinen Workshop im anígo SPACE macht, setzt man sich direkt für mehr Chancengerechtigkeit ein – für marginalisierte Gruppen und vor allem für Kinder und Jugendliche. Und indem man davon erzählt. Darüber freuen wir uns auch.

Bei duvia e.V. machen wir weiter unsere Workshops an Schulen, bieten rassismuskritische Fortbildungen für Lehrkräfte an und bilden Teamer*innen aus, die Lust auf die Arbeit an Schulen haben.

Wir freuen uns auf Anfragen für spannende Projekte, auf neue Kooperationen. Man kann uns unterstützen, indem man uns als Player im Bereich Rassismuskritik und Demokratiebildung wahrnimmt und als Expert*innen zu entsprechenden Veranstaltungen einlädt. Denn wir versuchen, über unsere Arbeit auch den Perspektiven der Kinder und Jugendlichen Raum zu verschaffen. Und freuen uns, wenn wir in mehr Räume kommen, in denen wir das tun können.

➔ Hier geht es  zu Teil 1 "Wo Bildungsarbeit Heimat findet - Demokratiebildung neu denken"

➔ Hier geht es  zu Teil 2 "Zwischen Freundschaft, Identität und Belonging - Migrantische Biografien als Ressource"

Über Reina-María Nerlich

Reina-María Nehrlich im Interview. duvia e.V. anígo SPACE
Portrait © Sophia Carrara

Reina-María Nerlich (sie/ihr) ist Expertin für Demokratiebildung und Antidiskriminierung. Sie war als Lehrerin tätig und studierte u.a. Bildungswissenschaften.
Als Mitgründerin von duvia e.V. begleitet sie Schulen und Organisationen dabei, diversitätssensibel und rassismuskritisch zu arbeiten. 
Mit dem anígo SPACE in Berlin haben sie und ihre Kolleg*innen einen solidarischen Workshop & Community-Raum geschaffen, der Empowerment sichtbar und erlebbar macht. Der anígo SPACE kann für eigene Veranstaltungen gebucht werden. 
Mehr Infos und Kontakt: www.duvia.de | www.anigospace.de