Keine Daten, kein Problem: Die unsichtbare Minderheit

Mit Behinderung am Arbeitsplatz ? Könnte Normalität sein, ist es aber nicht!

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von Sophia Behrend, May 31, 2023
Keine Daten, kein Problem: Die unsichtbare Minderheit Mit Behinderung am Arbeitsplatz ? Könnte Normalität sein, ist es aber nicht! Inklusive Behinderung Vielfalt Diversity

Heutzutage sind Begriffe wie Chancengleichheit, Wertschätzung und Respekt auf fast jeder Karriereseite zu lesen. Genau wie Nachhaltigkeit ist Diversity das neue Modewort in Unternehmen. Und das macht Sinn! Unternehmen, die sich als vielfältig präsentieren, wirken fortschrittlicher und werden von den meisten Bewerber*innen bevorzugt. Aber ähnlich wie beim Greenwashing ist die Vielfalt oft nur oberflächlich. In vielen Fällen bedeutet mehr Vielfalt mehr Frauen, mehr Internationalität und eine größere Altersmischung. Eine Gruppe wird dabei oft außer Acht gelassen - Arbeitnehmer*innen mit Behinderungen. Die meisten Menschen sehen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Geschlechter in einem Team und denken, dass das Team vielfältig ist. Die Tatsache, dass es Menschen mit Behinderungen gibt und dass sie gleichberechtigt vertreten sein sollten, wird von der Mehrheitsgesellschaft regelmäßig vergessen - vor allem im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt. Was bedeutet das also für die unsichtbare Minderheit? In diesem Artikel untersucht Sophia Behrend den aktuellen Status quo für Menschen mit Behinderungen am Arbeitsplatz.

Informationen in Einfacher Sprache:
Einige Gruppen haben in unserer Gesellschaft Nachteile. Sie haben schlechtere Chancen als andere Gruppen. Diese Gruppen nennt man benachteiligte Gruppen. Dazu gehören auch Menschen mit Behinderung.
Wie sind ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt? In der Forschung werden Menschen mit Behinderung selten beachtet. Doch: Was nicht erforscht wird, kann nicht so gut diskutiert werden. Behinderung sollte in der Forschung eine größere Rolle spielen. Damit gegen die Benachteiligung gekämpft werden kann.
In Firmen gibt es oft eine Abteilung für Vielfalt. Diese Abteilung heißt “Diversity Management”. “Diversity” heißt Vielfalt auf Englisch. “Management” heißt Verwaltung. Diese Abteilung organisiert und verwaltet also Vielfalt. Doch was heißt Vielfalt und wann ist Vielfalt erreicht? Das ist nicht richtig festgelegt. Deshalb arbeiten die Diversity Abteilungen sehr unterschiedlich. Wie sehr Menschen mit Behinderung vom Diversity Management profitieren, ist dabei fragwürdig.

Begriffe wie Chancengleichheit, Wertschätzung und Respekt liest man auf fast jeder Karriereseite. Unternehmen, die sich divers darstellen, wirken fortschrittlicher und werden von den meisten Bewerber*innen bevorzugt. Die Wissenschaft bescheinigt vielfältigen Teams unter der richtigen Führung zahlreiche Vorteile: Gesteigerte Produktivität und Kreativität, höhere Krisenbeständigkeit und nicht zuletzt wachsende Chancengerechtigkeit (ein Überblick findet sich zum Beispiel in der Studie “Diversität und Erfolg von Organisationen” von Wirtschaftssoziologinnen und Arbeitsmarktforschenden).

Behinderung ist irrelevant

Doch die Diversität in Unternehmen entwickelt sich langsam: In den Medien wird von Rassismus, Sexismus und Altersdiskriminierung am Arbeitsplatz berichtet, von abnehmenden Frauenquoten in DAX Konzernen, von Chancenungleichheit, von übergriffigem Verhalten und Mobbing.

Mehr Diversität, das bedeutet meistens: weiblicher, internationaler und altersheterogener. Eine Gruppe kommt dabei oft nicht vor: Arbeitskräfte mit Behinderung. Die meisten sehen in einem Team Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und verschiedenen Geschlechts und halten das Team für divers. Dass es Menschen mit Behinderung gibt und sie gleichberechtigt vertreten sein sollten, vergisst die Mehrheitsgesellschaft regelmäßig – erst Recht im Kontext Arbeitsmarkt. 
Das Diversitätsbarometer 2020 zum Beispiel, eine Studie der Wirtschaftsgesellschaft Warth & Klein Grant Thornton, der Fachhochschule Wedel und der Leuphana Universität Lüneburg, ermittelt, wie divers die Vorstände der 30 größten DAX-Unternehmen aktuell sind. Wenig überraschend kommt die Studie zu dem Schluss, das durchschnittliche DAX-Vorstandsmitglied sei männlich, Anfang/Mitte 50 und deutsch. Nicht einmal erwähnenswert ist jedoch, dass es auch nicht behindert ist. Und das ist ein Problem. Wenn die Dimension “Behinderung” gar nicht erhoben wird, wird damit suggeriert, dass Behinderung als Ungleichheitsdimension irrelevant ist.

Systematisch ausgegrenzt

Durch schlechtere Bildungschancen und systematische Barrieren schaffen es Menschen mit Behinderung selten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Gründe dafür sind offensichtlich und trotzdem tut sich wenig. Menschen mit Behinderung werden nachweislich seit dem späten 18. Jahrhundert systematisch von Menschen ohne Behinderung getrennt. Diese Praxis stammt aus einer Zeit, in der Behinderung als Defizit, als negative Abweichung von Normalität, bewertet wurde. Dieses Verständnis hält sich immer noch hartnäckig. Seit der Ratifizierung der UN Behindertenrechtskonvention (UN BRK) im Jahr 2009 wird Behinderung in Deutschland offiziell als eine Wechselwirkung verstanden, die zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren erst entstehe. Die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft muss entsprechend ermöglicht werden. Doch das passiert nicht.

Die Unsichtbarkeit von Menschen mit Behinderung ist tief verankert. Menschen mit und ohne Behinderung begegnen sich selten. Viele Menschen mit Behinderung lernen immer noch in separaten Schulen, arbeiten auf einem separaten Arbeitsmarkt und wohnen in separaten Einrichtungen. Die Trennung hat dabei für sie viele Nachteile: Der Zugang zu gleichwertiger Bildung ist erheblich erschwert. Der Weg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wird ihnen verwehrt. Die gesellschaftliche Trennung wird durch exklusive Wohnverhältnisse verstärkt. Und auch für nichtbehinderte Menschen hat die Trennung Konsequenzen: Unsicherheit, Berührungsängste und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung sind die Folge. Die meisten Menschen wissen nicht einmal, wie sie Menschen mit Behinderung korrekt benennen können.

Einheitliche Diversitätskriterien gibt es nicht

Wann ein Unternehmen wirklich divers aufgestellt ist, ist unklar. Es gibt keine einheitlichen Kriterien. So kommen verschiedene Studien auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Infineon Technologies, der größte deutsche Halbleiterproduzent, zum Beispiel, macht im Ranking der Diversity Leaders der Financial Times aktuell den zweiten Platz. Das Diversitätsbarometer 2020 hingegen, beschreibt Infineons Geschlechtsdiversität im Vorstand als nicht vorhanden.

Bisher gibt es von offizieller Seite in Deutschland keine repräsentativen Daten zur Teilhabe behinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Bekannt ist, dass weiterhin 320.000 Menschen mit Behinderung auf dem zweiten Arbeitsmarkt in Sondereinrichtungen, also Werkstätten für behinderte Menschen beschäftigt sind. Niemand weiß, wie viele Menschen mit Behinderung tatsächlich ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten entsprechend arbeiten.

Barrieren, mangelnde Unterstützung, Resignation

Von allen Menschen mit Behinderung im erwerbsfähigen Alter sind 2017 in Deutschland nur etwa 30% in den Arbeitsmarkt integriert. In einer Expertise der Antidiskriminierungsstelle von 2013 wurde der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt qualitativ untersucht. Es wurden dabei lediglich achtzehn Menschen mit Behinderung umfassend interviewt. Die Ergebnisse sind alarmierend: Befragte berichten von immer neuen Barrieren, mangelnder Unterstützung, Diskriminierung und Resignation angesichts der katastrophalen Zustände. Trotz dieser Ergebnisse wird erst 2021 die erste groß angelegte Studie, beauftragt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, durchgeführt. Acht Jahre danach.

Diversity Manager*innen als Verbündete?

Die wachsende Bedeutung des Diversity Managements in Unternehmen gibt Hoffnung auf eine aktive Förderung von Vielfalt und damit auch eine Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung und allen anderen marginalisierten Gruppen auf dem Arbeitsmarkt. Wie Unternehmen das Diversity Management allerdings tatsächlich gestalten, welche Ziele verfolgt und welche Strategien angewandt werden, ist sehr unterschiedlich. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Commerzbank AG und anschließend die Deutsche Post DHL Group genannt.

Es gibt im Diversity Management zwei Schwerpunkte: Einerseits Nachteile für bestimmte Beschäftigtengruppen oder deren Diskriminierung zu vermeiden. Und andererseits Potenziale von Vielfalt in der Belegschaft zu erkennen und zu nutzen 

Sofia Strabis 
Leiterin des HR Diversity Managements der Commerzbank AG

In enger Zusammenarbeit mit der Schwerbehindertenvertretung seien bei der Commerzbank seit 2016 viele Maßnahmen auf den Weg gebracht worden, die den Umgang mit Mitarbeiter*innen sowie Kund*innen mit Behinderungen entscheidend weiter gebracht haben. Als erste Bank Deutschlands hat sie 2018 einen Aktionsplan zur Inklusion auf Basis der UN Behindertenrechtskonvention veröffentlicht. Weitere Maßnahmen umfassten beispielsweise die Verankerung von Barrierefreiheit als Notwendigkeit, eine eigene Stelle für die Koordination von Hilfsmitteln, ein Netzwerk von und für Mitarbeiter*innen mit Behinderung, das Austausch und Vernetzung, sowie die Identifikation weiterer relevanter Themen und Lösungen vereinfache.
Ob verschiedene marginalisierte Gruppen tatsächlich unterschiedlich stark vom Diversity Management profitieren, findet sie “schwierig zu differenzieren”. Besonders wichtig sei es ihrer Meinung nach vor allem, das “Mindset” von Führungskräften und Mitarbeiter*innen zu verändern, um zu einem inklusiven Arbeitsumfeld zu kommen, das allen Gruppen gleiche Möglichkeiten biete.

Bei der Deutschen Post DHL Group schätzt man Vielfalt und Inklusion als eine besondere Stärke des Unternehmens. 9,1 % der Mitarbeitenden haben eine Behinderung. Das sind 15.382 Menschen. Als Vice President Diversity & Values ist Susanna Nezmeskal-Berggöt verantwortlich für das Diversity Management. Zusätzlich engagiert sie sich im Beirat von Beyond Gender Agenda und möchte daran arbeiten, den Wert von Vielfalt in unserer Gesellschaft sichtbarer zu machen. Auf die Frage, welche benachteiligten Gruppen aktuell am meisten vom Diversity Management profitieren und wo sie die meisten Herausforderungen sehe, antwortet sie:

Bei der Auswahl und Entwicklung unserer Beschäftigten zählen alleine individuelle Fähigkeiten und Qualifikation. Wir machen keinen Unterschied aufgrund von Geschlecht, ethnischer und nationale Herkunft, Rasse, Hautfarbe, Religion, Alter, Behinderung, sexueller Orientierung sowie Identität und weiterer gesetzlich geschützter Merkmale. 

Susanna Nezmeskal-Berggötz
Vice President Diversity & Values, Deutsche Post DHL Group

Diese Antwort erinnert an die vermeintlich tolerante Aussage ‘ich sehe keine Hautfarbe’, die strukturelle Diskriminierung verneint und unsichtbar macht, statt ihr entgegenzuwirken. Damit ist es eben nicht getan. Eine vorurteilsfreie Auswahl und die Herstellung von Chancengleichheit sind zweifelsfrei das Ziel. Menschen mit Behinderung und andere Marginalisierte werden allerdings offenkundig strukturell diskriminiert und haben deshalb eine geringere Chance, die erforderlichen Fähigkeiten und Qualifikationen überhaupt zu erlangen. Ihre systematische Benachteiligung sogar im Rahmen des Diversity Managements unbeachtet zu lassen, verstärkt die Chancenungleichheit noch zusätzlich.

Nach erfolgreichen Maßnahmen gefragt, berichtet Susanna Nezmeskal-Berggötz: “In unserem Unternehmen gibt es zahlreiche Beispiele einer erfolgreichen Integration von Beschäftigten mit einer Behinderung. Vor allem bei unseren Schreibtischjobs aber auch in Jobs im technisch-gewerblichen Bereich und in der Zustellung können Menschen mit Behinderung ihre Stärken einbringen.”

Potenziale behinderter Menschen ungenutzt

Das Ziel des Diversity Managements sollte sein, das Potenzial aller Menschen anzuerkennen und wirtschaftlich nutzbar zu machen. Und zwar diskriminierungsfrei. Wirkliche Diversität ist erst erreicht, wenn die Arbeitswelt genauso vielfältig besetzt ist wie die Gesellschaft und wenn jede*r gleichberechtigt teilhaben kann. Natürlich müssen dazu die spezifischen Zugangsbeschränkungen aller benachteiligten Menschen in Betracht bezogen und Methoden gefunden werden, diese zu überwinden. Das ist die Aufgabe aller Arbeitgeber*innen und im Besonderen der Diversity Manager*innen.

Diversity Manager*innen können zwar gute Ideen und Unternehmen gute Webseiten haben. Die entsprechenden Werte müssen aber vom gesamten Unternehmen geteilt werden. Erst dann kann Inklusion auf dem Arbeitsmarkt gelingen und das Wort Diversität mit mehr Bedeutung gefüllt werden.

Mit unserer Belonging Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von LichtBlick den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Unsere Kolumnist*innen für das Jahr 2023 sind die engagierten Aktivist*innen von SOZIALHELDEN e.V. mit dem Themenschwerpunkt Behinderung & Intersektionalität am Arbeitsplatz. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“.“ 

Über die Autorin

Sophia Behrend 1994 in Berlin geboren. Sophia Behrend studierte Soziologie und Krankenhausmanagement. Mit der gemeinnützigen Organisation Librileo setzte sie sich für Bildungsgerechtigkeit ein. Heute arbeitet sie für die Sozialheld*innen, leitet das Projekt PFANDGEBEN und beschäftigt sich mit den Themen Inklusion, Wohnen und sozialer Ungleichheit.

Die Sozialheld*innen setzen sich für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ein. Sie bezeichnen sich auch als konstruktive Aktivist*innen. Ihr Team besteht aus Medienschaffenden, Kommunikateur*innen, IT-Spezis und vielen weiteren kreativen und engagierten Menschen, die nach dem Motto “einfach mal machen” handeln. Mit über 15 Projekten arbeiten die Sozialheld*innen am sogenannten Disability Mainstreaming und wurden bereits vielfältig ausgezeichnet.

Foto: Andi Weiland

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