Wo Bildungsarbeit Heimat findet

Demokratiebildung neu denken

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von Jocelina Ndimbalan, July 4, 2025
Wo Bildungsarbeit Heimat findet - Demokratiebildung neu denken

Header © Isabella Lichtbilder

Reina-María Nerlich ist zweifache Co-Gründerin in Berlin im Bereich Demokratiebildung und Community Building. Reina lernte ich im letzten Jahr durch unser Collective Action Projekt "Das letzte Puzzlestück" kennen und gewann seitdem einige schöne und inspirierende Einblicke in ihre Arbeit bei duvia e.V. und im anígo SPACE. Weil ich selbst manchmal nicht fassen kann, was für facettenreiche, inspirierende und interessante Menschen ich um mich herum habe (ein Hoch auf die tbd* und UBL Community), wollte ich es jetzt einmal genauer wissen und ein Gespräch, wie wir es sonst im Park oder beim Tee in der Küche führen würden, mit der Welt teilen. 
Entstanden ist ein Gespräch über Co-Gründung, wertschätzende und diskriminierungssensible Arbeitskultur, Bildungsarbeit in Berlin, System Schule, Allyship und Identität.
Das Interview ist in drei Teilen veröffentlicht worden.
Viel Spaß mit Teil 1. 

Jocelina: Hi Reina, wer bist du und was machst du eigentlich? 

Reina: Ich bin Mitgründerin des Bildungsvereins duvia e.V.. Bei duvia e.V. machen wir Demokratiebildungsarbeit, das heißt, wir setzen uns für eine Gesellschaft ein, die Diversität lebt, die mehr Chancengerechtigkeit lebt und die vor allem insbesondere marginalisierten Gruppen mehr Partizipation ermöglicht. Wir versuchen durch unsere Arbeit Empowermenträume zu schaffen und Demokratiebildung diskriminierungssensibel zu gestalten. Das machen wir viel in Schulen mit Schüler*innen, mit Lehrer*innen, aber auch mit anderen Trägern,  Bildungsorganisationen oder Unternehmen, die wir zu Themen rund um Diversität, Partizipation, Migrationsgesellschaft, Diskriminierungskritik und Rassismuskritik begleiten. 

duvia e.V. gibt es seit 2019, da haben wir uns gemeinsam mit ganz vielen tollen Kolleg*innen gegründet. In den letzten fünf Jahren, in denen wir mit duvia e.V. tätig waren, haben wir oft von einem eigenen Raum geträumt, in dem diese Themen ihr Zuhause finden können. Ein Zuhause, in dem es Menschen, die oft nicht in hochwertigen Räumen arbeiten, ermöglicht wird, auf professioneller Ebene miteinander zu arbeiten und aktiv zu sein.

Leider sind die Fördergelder im sozialen Bereich oft so begrenzt, dass Raummieten entweder gar nicht da sind oder nur Räume ermöglichen, die nicht unseren Ansprüchen genügen.

Wir waren es ein bisschen leid, insbesondere Kindern und Jugendlichen immer wieder zu sagen, “ihr seid wichtig, eure Themen sind wichtig", aber sie dann in Räume zu schicken, die, wie es Berliner Schulen ja leider oft noch sind, nicht die schönsten Räume sind.

Wir wollten einen Raum schaffen, in den man reinkommt und sagt, “ja, hier will ich den ganzen Tag verbringen und dieser Raum vermittelt mir Wertschätzung”. Deswegen haben wir uns 2024 dazu entschieden, nochmal zu gründen. Wir haben den anígo SPACE gegründet und bauen gerade unseren eigenen Workshop-Space auf, den wir im Oktober 2024 auch schon eröffnet haben.

…und dieser Space ist wirklich wunderschön geworden. Ich durfte dich dieses Jahr im Kontext unseres Projekts kennenlernen und ich weiß noch wie ich schon damals so beeindruckt war, dass du gemeinsam mit Mary und vielen weiteren Menschen duvia e.V. gegründet hast. Dann kam es zu dem anígo SPACE und ich habe das erste Mal so richtig registriert: “Warte mal, Reina ist zweifache Co-Gründerin.” Wenn ich an die Gründungslandschaft in Deutschland denke, habe ich manchmal noch so ein stereotypes Bild von einem weißen Max, der aus einem sozioökonomisch starken Elternhaus kommt, im Kopf. Obwohl ich zumindest aus Berlin auch Organisationen und Unterstützungsmöglichkeiten kenne, die versuchen, das Ganze aufzubrechen, also, um auch Gründungen diverser zu gestalten. 

Wie war dein Weg zur Gründung?

Witzigerweise wird mir das, wenn du das so sagst, erst so richtig bewusst. Wenn ich das von anderen lese, denke ich immer noch so: "Oh mein Gott, wie cool, die haben gegründet” und dann merke ich erst, dass ich das ja auch gemacht habe, aber ich habe mich selten als Mitgründerin vorgestellt. Ich glaube, das kommt daher, dass das kein Plan war, den ich verfolgt habe.

Ich bin nach der Schule relativ planlos losgezogen und wollte einfach was machen, was mich interessiert und habe im Studium auch relativ viel gewechselt. Erst habe ich Anthropologie und Lateinamerika-Studien studiert, gerade letzteres war mehr die eigene Identitätssuche, dass ich Räume haben wollte, um mich mit der Herkunft meines Vaters auseinandersetzen zu können. Ich wusste aber gar nicht, was ich damit in Zukunft hätte arbeiten können. 

Dann wurde mir bewusst, dass ich doch Lust auf Schule habe und habe Lehramt studiert und parallel in einem politischen Bildungsprojekt gearbeitet. Das war mein erster Job, dort bin ich immer mehr eingestiegen und habe mich sehr stark darüber identifiziert. Ich habe zum ersten Mal einen Ort gefunden, an dem ich das Gefühl hatte, hier kann ich wirken, ich fühle mich aber gleichzeitig auch total wohl und sicher an diesem Ort. 

Leider hat sich das irgendwann intern stark gewandelt und ich habe mich dort dann nicht mehr so gesehen. So ging es vielen meiner Kolleg*innen damals, was ein schmerzhafter Prozess war, weil wir uns eigentlich so sehr über diese Arbeit identifiziert hatten. Wir  haben das Projekt damals dann zu unterschiedlichen Zeitpunkten verlassen. Dann war aber irgendwie klar, dass wir gerne und gut zusammengearbeitet haben und gleichzeitig hatten wir das Gefühl, dass wir nicht wollen, dass uns das nochmal passiert und so ist dann die Idee für duvia e.V. entstanden. 

Wir teilten das Gefühl, dass wir in diesem Raum nicht machtvoll genug waren, um negative Veränderungen in unserer Gesellschaft  aufzuhalten.

Die Vereinswelt hat in Deutschland auch so einen angestaubten Charakter. Darin haben wir uns nie gesehen, aber wir hatten tatsächlich einfach keine Rücklagen privat oder gemeinsam, um was anderes zu gründen und wir wussten, wir wollen gemeinnützig tätig sein. So war eine Vereinsgründung erstmal der einfachste Weg.

Die größte Motivation war es, unser eigenes Ding zu machen und geschützte Räume zu sichern, in denen man keine Ohnmacht erfahren kann, weil man selbst in den Entscheidungspositionen ist und gleichzeitig nach innen sicherzustellen, dass an diesen Entscheidungspunkten nicht Einzelne sitzen, sondern man das gemeinschaftlich macht und das habe ich bis dahin nirgends anders gesehen.

Inzwischen genieße ich natürlich die Freiheit, die das mit sich bringt, neben allen Herausforderungen, Dinge anders anzugehen, anders zu gestalten, so sehr, dass es mir sehr schwer fallen würde, jetzt wieder in konservative, konventionelle Unternehmensstrukturen einzusteigen.

Obwohl wir da in unterschiedlichen Bereichen sitzen, kann ich das auch in Bezug auf tbd* und unsere inneren Strukturen und Absichten, die Zusammenarbeit hierarchieärmer und selbstbestimmter zu gestalten, sehr gut nachvollziehen.

Du hast jetzt gerade davon gesprochen, dass ihr äußeren Einwirkungen damals nicht entgehen konntet und dem Ganzen deshalb mit eurer ersten Vereinsgründung und dem Aufbau von eigenen Strukturen versucht habt, entgegenzuwirken. Was sind das genau für Strukturen?

Als wir duvia e.V. gegründet haben, waren wir 13 Leute und inzwischen haben wir einen Pool von 60 Teamer*innen, die freiberuflich mit uns arbeiten. Da wird der Kreis natürlich größer und wir versuchen stetig, “Feedbackkultur, Wertschätzung, Offenheit für Kritik, Mitbestimmung”, nicht einfach nur leere Worthülsen sein zu lassen, genauso wenig, wie wir eine diskriminierungskritische Gestaltung unserer Zusammenarbeit nicht nur Worthülse sein lassen, sondern das auch wirklich leben. Das braucht natürlich Zeit und Ressourcen. 

Gerade im sozialen Bereich, in dem Ressourcen unglaublich knapp sind, ist es nicht leicht, aber es ist uns einfach so wichtig, dass wir uns diese Zeit immer wieder nehmen und dazu gehört für uns auch ganz viel Zeit für eine wertschätzende Teamkultur. 

Viele, die mit uns arbeiten, ähnlich wie ich vor einigen Jahren, erleben zum ersten Mal ein: “ah wow, das ist ein Ort, da fühle ich mich wohl und da ist meine Biografie etwas, das wertgeschätzt wird, was eine Ressource sein kann für meine Arbeit”.

Gleichzeitig haben sie das erste Mal ein Netzwerk, das sich echt anfühlt. Das wollen wir immer weiter leben, das ist uns super wichtig und deshalb nehmen wir uns die Zeit und die Ressourcen und ich glaube, es ist möglich und es macht auch Spaß, wenn man es möglich macht.

Was bedeutet denn in eurem gelebten Alltag neben der wertschätzenden Arbeitskultur, konkret eine diskriminierungskritische Arbeitskultur und wie schafft ihr diese in eurem Arbeitsalltag und für eure Mitarbeitenden und Kolleg*innen zu ermöglichen?

Es bedeutet auf der einen Seite, dass wir versuchen, Ausschreibung anders zu gestalten und Menschen auf eine wertschätzende Art anzusprechen. Wir geben verschiedene Möglichkeiten sich selbst vorzustellen. Wir haben in unserem letzten Recruiting-Verfahren angegeben, dass man auch einfach eine Sprachnachricht senden kann, wenn man sich schriftlich nicht sicher genug fühlt, um ein Motivationsschreiben abzuschicken und das eine Hürde für einen darstellt.

Dann gehört dazu, dass wir in Recruiting-Gesprächen auch immer transparent machen, dass es nicht nur darum geht , dass wir danach entscheiden, wer zu uns passt, sondern dass es eine beidseitige Entscheidung ist. Auch wir bewerben uns bei dir. Stell du uns Fragen, richte deine Werte an uns und schau für dich, ob wir diese erfüllen! 

Damit wollen wir Hürden abbauen und Menschen die Angst nehmen, denn gerade Personen, die privat nicht über ein riesengroßes Netzwerk und verschiedenste Formen von Vitamin B und Kapital verfügen, sind, vor allem wenn sie am Anfang ihrer beruflichen Karriere stehen, in solchen Situationen extrem aufgeregt. Dem versuchen wir durch die Art, wie wir diese Gespräche führen, entgegenzukommen.  

In unserem Team intern heißt das auch, immer wieder einzuchecken, uns wirklich Zeit für Biografiearbeit miteinander zu nehmen, um zu wissen: Wie sind wir sozialisiert? Wem ist was wichtig? Wir möchten uns auch bewusst darüber sein, welches weltpolitische Ereignis oder welcher Feiertag gerade wen im Team berührt, wie wir dafür Raum schaffen können und den Menschen anbieten können, sich frei zu nehmen, gemeinsam zu feiern, zu trauern, was auch immer. Auch Care-Arbeit ist für uns wichtig. Wir sind alle unterschiedlich belastet und eingebunden und dafür Raum zu schaffen, bedeutet für uns, dass wir Arbeitszeiten nicht zählen, wir wissen, dass wir alle ganz oft viel mehr arbeiten, als was da auf irgendeinem Papier steht und manchmal ist es an Tagen notwendig, dass es weniger ist und dann ist das so. In diesen Fällen füreinander einzuspringen und zu sagen, “hey was kann ich dir abnehmen?”, das gehört für uns auch dazu.  Wir führen Projekte eigentlich nie alleine durch, um sicherzustellen, dass verschiedene Perspektiven für Konzepte,  Inputs und Projekte zusammenkommen und sich gegenseitig korrigieren können. Das sind einige Punkte, die wir in der Praxis umsetzen. 

➔ Hier geht es  zu Teil 2 "Zwischen Freundschaft, Identität und Belonging - Migrantische Biografien als Ressource".

Reina-María Nehrlich im Interview. duvia e.V. anígo SPACE

Portrait © Sophia Carrara

Reina-María Nerlich (sie/ihr) ist Expertin für Demokratiebildung und Antidiskriminierung. Sie war als Lehrerin tätig und studierte u.a. Bildungswissenschaften.
Als Mitgründerin von duvia e.V. begleitet sie Schulen und Organisationen dabei, diversitätssensibel und rassismuskritisch zu arbeiten. 
Mit dem anígo SPACE in Berlin haben sie und ihre Kolleg*innen einen solidarischen Workshop & Community-Raum geschaffen, der Empowerment sichtbar und erlebbar macht. Der anígo SPACE kann für eigene Veranstaltungen gebucht werden. 

Mehr Infos und Kontakt: www.duvia.de | www.anigospace.de