Über Wage Theft und die Willkür des Gesetzes

Wage Theft ist so unmoralisch wie real und findet mit ziemlicher Sicherheit auch in Deinem Betrieb statt.

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by Sohra Behmanesh, August 8, 2023
wage theft

Vor einigen Jahren wurde meinem Sohn eine Wasserpistole aus unserem Garten geklaut. Es war eine dieser größeren, teureren mit Wassertank und weitem Spritzvermögen. Natürlich war ich zunächst empört und wollte rausfinden, welches der Nachbarskinder dahintersteckte. Und dann drängte sich mir ein Gedanke auf: Mein Sohn hatte drei dieser Wasserpistolen gehabt. Wir hatten ihm kürzlich zwei gekauft (damit er sich zu zweit Wasserschlachten liefern konnte) und zufälligerweise bekam er zeitgleich eine weitere zum Geburtstag geschenkt. Und ich konnte es nicht leugnen: Kein Kind braucht für sich allein drei Wasserpistolen. Ich sah es ein: Dass sich das Nachbarskind – das vermutlich selbst gar keine hatte – eine aus unserem Garten genommen hat, hatte schlicht etwas mit Umverteilung zu tun.

Was in unserer Gesellschaft als kriminell oder strafbar gilt, hat damit zu tun, wer die Definitionsmacht für kriminelles/strafbares/gesetzwidriges Verhalten hat. Und da haben wir es mit nicht weniger zu tun als der Staatsgewalt, die in ihrer massiven Übermacht derart gefährlich ist, dass diese durch das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung (theoretisch) aufgeteilt wird, damit sich diese (theoretisch) gegenseitig kontrollieren und begrenzen: die gesetzgebende Gewalt (Parlamente), die vollziehende Macht (u.a. Cops) und die Recht sprechende Gewalt (Gerichte). Und es hängt auch mit Macht zusammen, wie hart oder lasch kriminelles Verhalten bestraft wird und auch, welches ungesetzliche Verhalten wie streng verfolgt bzw. an welchen Stellen auch gerne mal weggeguckt wird. Und deshalb sitzen in Gefängnissen ja auch primär sozial benachteiligte Menschen: Wenn sie gegen das Gesetz verstoßen, werden sie häufiger und länger verurteilt und seltener frühzeitig entlassen als privilegierte Menschen.

Ich glaube, die meisten Menschen finden recht eindeutig, was Diebstahl ist und was nicht. Eine Wasserpistole, die einem anderen Kind gehört, an sich nehmen? Diebstahl. Dinge in einem Geschäft diskret einstecken, ohne dafür zu bezahlen? Diebstahl! Und wisst Ihr, was wir gemeinhin nicht als Diebstahl bezeichnen?

  • Unbezahlte Überstunden!
  • Den Gender Pay Gap!
  • Den Stundenlohn von € 1,35 in den sogenannten Behindertenwerkstätten und den Stundenlohn von 1-3 Euro für Gefängnisinsassen!
  • Unterschiedliche Löhne für die gleiche Arbeit aufgrund der unterschiedlichen Bildungsabschlüsse der Angestellten!
  • Arbeitspausen, die nicht möglich gemacht werden, Urlaubstage die verfallen!

Der Diskurs im englischen Sprachraum ist da mal wieder weiter und hat dafür eine Bezeichnung: Wage Theft – Lohndiebstahl.

Deutlich wird Wage Theft an einem besonders perfiden und zynischen Beispiel: Als Amazon-Chef und Milliardär Jeff Bezoz letztes Jahr in seine Rakete stieg um ins Weltall zu fliegen, bedankte er sich unter anderem bei seinen Angestellten: „Ihr habt all das bezahlt!“ Es ist nur möglich, dass Jeff Bezoz mal eben Geld für einen Weltraumausflug übrig hat, weil genau dieses Geld auf den Konten seiner schlechtbezahlten Angestellten fehlt. Strom kommt nicht aus der Steckdose und Geld kommt nicht vom Bankautomaten – und reiche Menschen sind reich, weil sie den Menschen, die für sie arbeiten, einen angemessenen Lohn aktiv und vorsätzlich vorenthalten.

Klar, finden wir unisono uncool, und unsere Bestellungen bei Amazon sind seitdem noch mal mehr von Shoppingscham belastet. Und auch andere Superreiche finden wir in der Regel nicht sympathisch. Aber auch wenn sich mittlerweile viele darin einig sind, dass Milliardäre und Mehrfachmillionäre nicht existieren sollten, hat der Kapitalismus längst unseren Blick, unsere Werte korrumpiert.  Und so kommt es, dass wir quer durch alle politischen Lager populistisch von „Clan-Kriminalität“ sprechen, wenn wir Braune Männer unter Generalverdacht stellen – aber z.B. die Machenschaften des Quandt/Klatten-Clans, eine der reichsten Familien Deutschlands, nennen wir nicht so. Dabei konnte dieser autochthon deutsche Clan ihren unvorstellbar immens großen Reichtum überhaupt anhäufen, weil sie schon im ersten Weltkrieg Kriegsgewinnler waren, im zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter*innen in werkeigenen KZ ausbeuteten, sich an der Enteignung jüdischer Unternehmen beteiligten und als Waffenfabrikant*innen den Krieg belieferten. Heute ist der Quandt-Clan Miteigentümer von BMW – und erst vor zwei Jahren erschien ein Bericht, laut dem in China Uiguren – eine muslimische, verfolgte und unterdrückte chinesische Volksgruppe – unter anderem in BMW-Zulieferfabriken Zwangsarbeit verrichten. Der Quandt-Clan ist reich, weil die Menschen, die an den untersten Gliedern der Lieferkette für sie (über die Jahrzehnte immer wieder unfreiwillig) gearbeitet haben und arbeiten, arm bleiben.

Im Kapitalismus ist es derart normalisiert, Menschen so wenig wie nur irgend möglich zu bezahlen, dass faire Arbeitsbedingungen bei unseren Konsumgütern eher die Ausnahme ausmachen. Und dass die Normalisierung dieser Umstände in Wirklichkeit etwas mit Verrohung zu tun hat, korrumpiert unsere Werte und unsere Urteile. Wir messen die Welt mit unterschiedlichen Maßstäben, und es hängt alles miteinander zusammen. Es wirkt sich nicht nur auf unsere Narrative auf der individuellen oder gesellschaftlichen Ebene aus, sondern auch auf der institutionellen Ebene – vor dem Gesetz sind nämlich nicht alle gleich: Als die ehemalige Feministin Alice Schwarzer damit rechnen musste, dass ihr heimliches Schweizer Schwarzgeldkonto auffliegt, hat sie sich flugs selbstangezeigt und 200.000 Euro Steuerschulden nachgezahlt. Sich per Selbstanzeige selbst zu entkriminalisieren ist nämlich ein gesetzlich gesichertes Privileg, das Steuerhinterzieher*innen exklusiv zur Verfügung steht: Sie bleiben straffrei, wenn sie sich selbst anzeigen und die Steuerschuld nachzahlen. Zack! zurück in die unbefleckte Rechtschaffenheit. Für Hartz4-Empfänger*innen, die sich ein paar karge Euro mehr erhoffen und bei ihren Angaben mogeln, sieht das Gesetz eine solche Möglichkeit zur Strafbefreiung nicht vor und bekanntlich verstehen weder Gesellschaft noch Justiz bei Hartz4-„Betrug“ Spaß. Eine weniger strenge Gesetzeslage und -auslegung würde Hartz4-Empfänger*innen aber auch wenig helfen, denn woher sollten Hartz4-Empfänger*innen die finanziellen Mittel nehmen, um Geldstrafen zu bezahlen? Und so kommt ein weiteres Schmankerl unseres klassistischen Justizsystems zum Zug: die Ersatzfreiheitsstrafe. Wer nämlich zu einer Geldstrafe verurteilt wurde und diese nicht zahlen kann, landet im Gefängnis! Ist es nicht ultra peinlich, dass wir Zivilinitiativen wie Freiheitsfonds brauchen, die mithilfe von Spenden Menschen aus Gefängnissen „freikaufen“, die dort sitzen, weil diese sich weder Fahrscheine für den öffentlichen Nahverkehr leisten können, noch die Geldstrafe dafür, wenn sie dabei erwischt werden?! Währenddessen dürfen hochkarätige Wirtschaftskriminelle, die z.B. wegen Korruption verurteilt wurden, ihre millionenschweren Geldstrafen völlig legal aus der Unternehmenskasse zahlen – die das Unternehmen dann auch noch von der Steuer absetzen kann!

Ich bin ja aus neurodivergenten Gründen nicht so kompatibel mit Konventionen, Regeln oder Autoritäten, deshalb war ich noch nie ein Fan der rechtsprechenden oder gar ausübenden Gewalt – oder überhaupt vom Prinzip der Strafe auch auf der individuellen/elternschaftlichen/gesellschaftlichen Ebene. Ich bin fest überzeugt: Gefängnisse gehören abgeschafft. Grundlagen und Strategien dafür sehe ich z.B. in der Gewaltfreien Kommunikation und Transformativen Gerechtigkeit. Aber ich habe auch vom südafrikanischen Moderator und Comedian Trevor Noah viel über unser unlogisches und unterkomplexes Verständnis von Kriminalität und Rechtschaffenheit gelernt: In seiner Autobiographie „Born A Crime“ erzählt er auf höchst kurzweilige Weise von seiner von extremer Armut geprägten Kindheit und Jugend im segregierten Südafrika. Als Sohn einer Schwarzen Xhosa und eines Weißen Schweizers war nämlich bereits seine Geburt eine Straftat, da eine solche Verbindung zu der Zeit gesetzlich verboten war. Und an einer Stelle erzählt Noah von der mir völlig einleuchtenden Logik, nach der es sich für ihn und seine ebenfalls in Armut lebenden Freunde nicht wie ein Unrecht anfühlte, Dinge von wohlhabenden Menschen ungefragt an sich zu nehmen, für die die vorherigen Besitzer*innen von einer Versicherung entschädigt (!) werden.

Ich schätze es so ein, dass die meisten Menschen finden, das Nachbarskind, das diese Wasserpistole aus unserem Garten genommen hat,  dafür (wie auch immer) bestraft werden oder „logische Konsequenzen“ erfahren müsse (die in Wirklichkeit oft auch schlicht Strafen sind). Aber ich finde irgendwie: Mein Sohn und ich sind diejenige, die eine absolut nachvollziehbare Konsequenz daraus erfahren haben, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Ressourcen ungerecht verteilt werden – und zwar nicht, weil unser System nur fehlerhaft funktioniert, sondern weil unser System original vorsieht, dass Ressourcen hierarchisch aufgeteilt werden. Wir können nicht erwarten, dass Menschen, die das benachteiligt, diesen Umstand einfach hinnehmen. Das Nachbarskind konnte weder darauf vertrauen,  dass die Wasserpistolen dieser Welt gerecht verteilt werden, noch wollte es akzeptieren, wasserpistolenlos zu bleiben. Es musste die Verantwortung dafür selbst in die Hand nehmen. I respect that.

Überhaupt halte ich viel von Selbstverantwortung, denn auf das Gesetz ist eben kein Verlass. Und so hat die Bundesregierung zwar mit dem Entgelttransparenzgesetz so getan, als wolle es einen Beitrag gegen den Gender Pay Gap leisten. Aber das Gesetz existiert eher so auf dem Papier und hat keine tatsächlichen Folgen für Unternehmen, die Frauen und Männer für die gleiche Arbeit ungleich bezahlen. Deshalb ist es wichtig, dass Du bei Deiner Firma nachguckst. Wage Theft ist so unmoralisch wie real und findet mit ziemlicher Sicherheit auch in Deinem Betrieb statt.

Ich habe bereits an anderer Stelle darüber geschrieben: Wir bezahlen Arbeit nicht nach neutralen, vernünftigen Maßstäben. Sondern wir bezahlen sie nach ideologischen Maßstäben. Das entspricht natürlich nicht unserem Selbstbild, aber let’s face it: Wir bezahlen behinderten Menschen in sogenannten Behindertenwerkstätten nicht € 1,35 Stunden“lohn“, weil ihre Arbeit tatsächlich so wenig Gegenwert in unserer Lieferkette hätte. Sondern wir zahlen diesen peinlichen, menschenverachtenden Betrag, weil wir es können. Unsere ableistisch geprägte Ideologie, nach der wir die Arbeit von behinderten Menschen drastisch abwerten, erlaubt uns, unserer kapitalistisch geprägten Ideologie, die es normalisiert, Menschen in den niedrigeren Gliedern der Lieferkette so wenig wie nur irgend möglich zu bezahlen, Löhne entsprechend festzulegen und Ressourcen zu verteilen.

Fangt mal bitte an, die verschiedenen unterschlagenen Löhne in Eurem Betrieb zu benennen, und darüber zu sprechen, in wessen Taschen die unterschlagenen Löhne landen und in wessen Taschen sie fehlen. Und dann startet mal bitte mit der Umverteilung.

 

Mit diesem Text verabschiede ich mich als Kolumnistin bei tbd* – mein Jahr an dieser Stelle ist nun vorbei. Es war mir ein Fest! Ich konzentriere mich nun wieder auf meine Arbeit als Trainerin für Rassismussensibilisierung. Bis bald!

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Mit dieser Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von Wildling Shoes den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“. Unsere Kolumnist*in für das Jahr 2022 ist Sohra Behmanesh.

Sohra Behmanesh lebt mit ihrer Familie in Berlin, arbeitet als freiberufliche Anti-Rassismus-Trainerin und findet Fürsorge und Empathie ebenso großartig wie Intersektionalität.

Hier könnt ihr mehr Artikel aus der Belonging Kolumne lesen: https://www.tbd.community/en/t/to-belonging


Foto: Kris Wolf

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