Über das Impostor Syndrom. Oder: Wessen Arbeit ist wie viel wert?

Alles was Du schaffst, ist genug.

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von Sohra Behmanesh, July 6, 2022
Impostor Syndrom

Als ich vor einigen Jahren auf das Wort „Impostor Syndrom“ (deutsch: Hochstapler*innen-Syndrom) gestoßen bin, war das für mich ein absoluter Game Changer: Hieß das, dass ich gar nicht die Einzige war, die schon ihr ganzes Leben lang Blut und Wasser schwitzend davon überzeugt war, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis alle merken, dass sie gar nicht gut in irgendwas ist, wie sie hat alle glauben machen? Außer mir leben noch viele andere Menschen mit der Angst, entlarvt zu werden, dass jenes, das sich bei ihnen als Leistung oder Fähigkeit darstellt, einfach nur daher rührt, alle hinters Licht geführt zu haben?

Ich habe es schon immer als enorm mind-blowing und empowernd empfunden, wenn ich entdeckt habe, dass es für etwas, das in mir wühlt, eine Bezeichnung gibt. Könnte das womöglich bedeuten, dass mein Selbstbild, das maßgeblich davon geprägt war, dass das, wie ich bin und was ich mache, vor allem von Ungenügendsein geprägt war, nicht daran liegt, dass ich als Sohra tatsächlich so defizitär und unzulänglich war, sondern daran, dass es ein gängiges, weit verbreitetes Muster ist, so über sich zu denken?

Der nächste Game-Changer kam dann, als ich bei Instagram auf Posts stieß, die Impostor Syndrom in Verbindung mit systematischen Unterdrückungssystemen wie das Patriarchat und White Supremacy brachten, weil ich verstand: Hier geht es nicht um willkürliche Selbstzweifel.

Seit einiger Zeit stelle ich mir in bestimmten Momenten des Zweifels oder der Verunsicherung eine Frage, die für mich ein wichtiger Kompass geworden ist: Wer profitiert? Und in diesem Kontext ist die Antwort darauf, wer von meinen Selbstzweifeln, von meiner Überzeugung, nicht genug zu sein, nicht genug zu leisten, nicht gut genug darin zu sein, was ich tue: Kapitalismus. Das Patriarchat. White Supremacy.

Diese Systeme sprechen uns ab, dass wir unseren bedingungslosen Wert als Mensch automatisch mit unserer Geburt erwerben, sondern gaslighten uns in die Vorstellung, wir müssten uns unseren Wert verdienen. Und vor allem Menschen, die gerne etwas erreichen möchten, die ehrgeizig sind, können ja nicht aushalten, nicht gut genug zu sein, deshalb ackern wir und ackern wir, in der hilflosen Hoffnung, vielleicht doch noch an den Punkt zu kommen, an dem es sich für uns so anfühlt: „Diesen Erfolg habe ich mir verdient!“ Und das könnte z.B. bedeuten: „Ich habe verdient, zufrieden mit mir zu sein.“ oder: „Ich habe eine Pause verdient.“ oder auch: „Ich darf Fehler machen. Ich darf Erwartungen enttäuschen. Ich darf Dinge nicht schaffen. Ich darf Grenzen setzen.

Unterdrückende Systeme leben davon, Druck auszuüben, es steckt bereits im Wort drin. Unterdrückende Systeme machen uns nicht nur klein, sondern sie machen uns kontinuierlich Feuer unterm Hintern, und erzählen uns, dass unser Wert von unserer Leistung, von unserer Produktivität abhängig ist. Und vor allem marginalisierte Menschen haben das verinnerlicht. Mein Vater hat mir schon früh gesagt: „Als Ausländer musst Du in diesem Land doppelt so gut sein wie die anderen.“ Wer profitiert davon? White Supremacy profitiert, weil Braune und Schwarze Menschen verinnerlichen: Unsere Arbeit ist weniger wert. Und der Kapitalismus profitiert, indem wir ackern und ackern und ackern, um dieses vermeintliche Defizit auszugleichen.

Das ist kein Fehler im kapitalistischen System, sondern das ist beabsichtigt. Das ist, wie Kapitalismus funktioniert. Blair Imani beschreibt es auf brillante Weise in einem ihrer einminütigen Erklärvideos: Im Kapitalismus geht es darum, Menschen für ihre Arbeit so wenig wie möglich zu bezahlen, und man würde Menschen an den untersten Stellen der Lieferkette auch nichts bezahlen, wenn man damit durchkäme. Und dafür müssen wir nicht mal hunderte Jahre zur Sklaverei zurückschauen.

Es ist etwa 13 Jahre her, als ein Bekannter, der sich als Unternehmer selbstständig gemacht hatte, nach einem längeren Business-Aufenthalt aus China zurückkam, und er erzählte begeistert: „Und man muss am Anfang nicht mal die Arbeiter bezahlen!“ Das klingt extrem, ist aber nicht sehr abseitig.

Zum Beispiel profilieren sich Unternehmen hierzulande gerne damit, in sogenannten Werkstätten für Behinderte produzieren zu lassen, und wir alle fallen darauf rein, dass das etwas Gutes sei, weil wir alle verinnerlicht haben: Die Arbeit von behinderten Menschen_Menschen mit Behinderung kann nicht viel wert sein, deshalb ist es eine gute Tat, das in Kauf zu nehmen, und ihnen trotzdem Aufträge zu geben. Und das läuft dann darauf hinaus, dass behinderte Menschen in diesen Werkstätten für einen Stundenlohn von € 1,35 arbeiten, und Unternehmen denkbar niedrige Produktionskosten zu ermöglichen. Wie problematisch und diskriminierend das System dieser Werkstätten ist, habe ich erst in der äußerst empfehlenswerten Folge „Haben wir alle eine Chance auf eine Karriere?“ von Ninia Lagrandes Podcast „All Inclusive“ erfahren, in der sie mit dem Aktivisten für Inklusion und Barrierefreiheit Raul Krauthausen darüber spricht. Und danach habe ich vom Aktivisten Lukas Krämer mehr darüber erfahren, wie ungerecht und ableistisch (Ableismus = Auf- und Abwertung von Menschen auf der Basis ihrer Fähigkeiten, die zur Diskriminierung von chronisch kranken und/oder behinderten Menschen/Menschen mit Behinderung führt) die Arbeitsbedingungen in diesen Werkstätten sind.

Wir messen der Arbeit von Menschen unterschiedlichen Wert zu, aber nicht, weil die Arbeit nicht von essenzieller Wichtigkeit für uns wäre, sondern weil wir den Menschen dahinter unterschiedlich viel Wert beimessen. Das führt zu den verschiedenen Pay Gaps, die wir kennen. Aber auch dazu, wie wir mit Care Arbeit im (vermeintlichen) Privaten umgehen. Emilia Roig, die Autorin von „Why we matter. Das Ende der Unterdrückung“ (aus meiner Sicht eins der wichtigsten Bücher unserer Zeit) und Gründerin des Center for Intersectional Justice in Berlin, hat vor einigen Tagen auf ihrem Instagram-Profil darauf hingewiesen, dass auch der Umgang mit Haus- und Carearbeit davon geprägt ist: Es gibt keine Anerkennung dafür, dass wir diese Dinge lernen müssen, es dafür also durchaus eine Kompetenz erfordert, die wir uns aneignen müssen.

Screenshot von einer Instagram-Story von Emilia Roig. In der Ecke oben links ist sehr klein das runde Profilfoto von Emilia zu sehen, daneben steht ihr Instagram-Name „emiliazenzile“. Das Foto zeigt Die Ecke eines Schlafzimmers, rechts sind die Vorhänge eines Zimmers, in der Mitte ein Bett mit glattgezogenen Laken. Darauf ist folgender Text platziert: „These tasks are undervalued not because their value is low, but because they’ve been constructed as „feminine

„Diese Aufgaben werden nicht abgewertet, weil ihr sie von geringem Wert wären, sondern weil sie als „weiblich“ konstruiert wurden.“

In der Folge werden in heterosexuellen Beziehungen Frauen als mäkelig oder nörgelig betrachtet, die gewisse Ansprüche daran haben, wie diese Aufgaben erledigt werden sollen wenn sie (mal) von ihrem Mann übernommen werden; während es nicht als mäkelig und nörgelig gilt, bei Reparaturen oder der Regelung von Finanzen bestimmte Ansprüche zu haben. Der Blick darauf, welcher Arbeit wir welchen Wert beimessen macht immer wieder deutlich: Marginalisierte Menschen haben kaum eine Chance, einen gesunden, objektiven oder gar freundlichen Blick auf ihre Leistung und den Wert ihrer Arbeit zu entwickeln.

Für den Arbeitsbereich halte ich es für die Verantwortung gerade jener Unternehmen, die sich z.B. soziale Ziele oder „flache Hierarchien“ auf die Fahne schreiben: einen Arbeitsethos zu kultivieren, der diese Privilegien- und Machtgefälle mitdenkt, und sich nicht in den Dienst des Macht- und Leistungssystems Kapitalismus stellt, sondern der das Wohlergehen aller Menschen die dort arbeiten, von der Putzkraft bis in die Chef*innenetage im Blick behält, und zwar nicht, um die Produktivität zu steigern, sondern weil wir es als Menschen verdient haben, dass es uns in und mit unseren Arbeits-Spaces gut geht, und dass unsere Arbeit ideell und monetär angemessen und gerecht gewertschätzt wird. Und da finde ich sogar, dass Gleichberechtigung (Equality) uns nicht näher ans Ziel bringt, was wir brauchen ist Verteilungsgerechtigkeit (Equity), also ein Verständnis von Gerechtigkeit, das nicht für alle das Gleiche anstrebt, sondern guckt: Wer braucht was für Chancengleichheit und um gut versorgt zu sein?

Wäre es in diesem Sinne gerecht, wenn ein kinderloser Mann (Single oder vielleicht sogar in Partner*innenschaft, die für ein zweites Einkommen im Haushalt sorgt) für die gleiche Arbeit das gleiche Gehalt oder die gleiche Anzahl an Urlaubstagen bekommt wie eine alleinerziehende Mutter?

Zu sehen ist eine Collage aus zwei Illustrationen. Links ist ein Stadion zu sehen, im Vordergrund stehen nebeneinander drei Holzkisten vor einem Holzzaun, der den Zuschauer*innenraum vom Stadion abtrennt. Auf der Kiste ganz links steht eine große Person, die bequem über den Zaun gucken kann. Auf der mittleren Kiste steht eine deutlich kleinere Person, die nur mit Mühe über den Zaun gucken kann. Neben der rechten Kiste sitzt eine Person im Rollstuhl; ihr Sicht auf das Geschehen im Stadion ist durch den Zaun versperrt. Darunter steht in Großbuchstaben: „Equality“ (Gleichberechtigung). Die rechte Illustration zeigt fast die gleiche Szenerie, nur dieses Mal steht die große Person links auf dem Boden und kann immer noch bequem über den Zaun gucken. Die mittlere, kleinere Person steht auf zwei Kisten und kann nun bequem über den Zaun gucken. Die Person ganz rechts im Rollstuhl steht auf einer Rampe, mit der sie nun auch bequem über den Zaun gucken kann. Darunter steht in Großbuchstaben: „Equity“ (Verteilungsgerechtigkeit).

Bildquelle: Equity Tools

Ich liebe ja die Arbeit von The Nap Ministry. Durch sie habe ich gelernt, dass Rast und Ruhe eine Angelegenheit von sozialer Gerechtigkeit ist:

you don't have to earn rest

Deutsch: "Du musst Dir Ausruhen nicht verdienen.“ (Bildquelle: The Napindustry/Instagram)

Dass mein Leben maßgeblich von Stress und Rastlosigkeit geprägt ist, fing vor elf Jahren an, als ich Alleinerziehende wurde. Das ist kein Zufall (Vor allem für Eltern wird dauerhafter Stress als normalisierter Zustand hingenommen, und diese Situation verschärft sich umso drastischer, wenn marginalisierende Faktoren wie alleinerziehend, (chronisch) krank oder behindert  zu sein, oder ein krankes/behindertes Kind zu haben). Und ich will das schon lange ändern, entschleunigen, zur Ruhe kommen, und neulich habe ich festgestellt: Seit Jahren nehme ich mir vor, dass ich *dieses eine Projekt* fertig ballern muss, weil es mir so unter den Nägeln brennt und wenn ich es erledigt habe, stellt sich Entspannung ein. Aber das wird nicht passieren, denn es kommt immer noch ein ganz wichtiges Projekt nach.

Es ist nämlich gar nicht so, dass *dieses eine Projekt* tatsächlich so mega wichtig ist, dass ich erst entspannen kann und darf, wenn es erledigt ist. Das, was Impostor Syndrom genannt wird und in Wirklichkeit eine beabsichtigte, hierarchisch gelenkte Arbeitskultur ist, die Menschen dazu bringen soll, sich selbst auszubeuten, hat uns beigebracht, dass wir uns nicht einfach so ausruhen und rasten dürfen.

Deshalb dürfen wir es nicht von den Haken auf unserer To-Do-Liste abhängig machen, ob und wie viel wir ruhen, sondern wir müssen das üben, wir müssen aktiv entscheiden: „JETZT ruhe ich mich aus.“ Die meisten von uns sind schon so lange so müde.

Wir sind keine Hochstapler*innen. Alles was Du schaffst, ist genug.

the courage to rest
Deutsch: "Du wirst Mut brauchen, um Dich in diesem System auszuruhen." (Bildquelle: The Nap Ministry/Instagram)

Ich wünsche uns allen, dass wir gemeinsam überlegen, wie Ausruhen weniger Mut erfordert.

Mit dieser Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von Wildling Shoes den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“. Unsere Kolumnist*in für das Jahr 2022 ist Sohra Behmanesh.

Titel Foto:  Михаил Секацкий