Über die Faulheit (und warum sie gar nicht existiert)

Schwierige Sache, dieses Nichtstun.

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von Sohra Behmanesh, August 24, 2022
Über die Faulheit (und warum sie gar nicht existiert)

Als Schülerin galt ich bei meinen Lehrer*innen als schlau, aber faul. Es ist erstaunlich, dass diese einfache Beurteilung zwar für viel Ratlosigkeit und Frustration bei allen Beteiligten sorgte, aber weiter keine Fragen aufwarf, denn meine „Faulheit“ war so weitreichend, dass sie beinahe dazu geführt hätte, dass ich nicht weniger als vier Mal hätte sitzen bleiben müssen und ohne jeden Abschluss von der Schule geflogen wäre, wenn mir meine Lehrer*innen in Krisenkonferenzen nicht das ein oder andere Mal die Versetzung geschenkt hätten. In Wirklichkeit war ich jedoch kein bisschen faul. Ich bin ADHSlerin und habe Dyskalkulie – und niemand hatte es bemerkt. Das, was das Schulsystem in seiner streng vorgegebenen und unflexiblen Form von mir forderte, konnte ich schlicht nicht leisten.

Da meine Sozialisation nicht nur als undiagnostizierte ADHSlerin, sondern auch in einem kapitalistischen System stattfand, das den Wert eines Menschen an seiner Produktivität und der Stringenz seiner Leistung misst, hatte das natürlich eine enorme Auswirkung auf mein Selbstwertgefühl und Selbstbild. Erst sehr spät lernte ich, wie sehr unsere Vorstellung von „Faulheit“ und Leistung mal wieder hochpolitisch und eng verbunden mit Klassismus, Ableismus, Rassismus und anderen Diskriminierungskategorien ist. Und sie ist eng verbunden mit einem moralischen Urteil. Faulheit ist in diesem Narrativ nicht einfach nur ein Defizit, sondern etwas, für oder gegen das sich Menschen entscheiden könnten – was rechtfertigt, dass wir Menschen, die als „faul“ gelten, herabwerten.

Wenn ich mir z.B. vorgenommen hatte: „Morgen gehe ich ins Fitness-Studio!“ und der nächste Tag verging, ohne dass ich meinem Vorsatz nachgekommen war, gab es für mich keine alternative Deutungsoption und das Urteil war klar: „Ich bin faul und undiszipliniert“, Selbstgeißelung inklusive.

Ein erster Gamechanger kam erst mit meiner Begegnung mit der Gewaltfreien Kommunikation, die mich lehrte, dass alles, was wir tun oder nicht tun, einem Bedürfnis zu Grunde liegt. Wenn ich mir vornehme, ins Fitness-Studio zu gehen, erfülle ich mir Bedürfnisse nach z.B. gesundheitlicher Selbstfürsorge, nach Ausgleich in Form körperlicher Betätigung im Alltag eines Schreibtisch-Jobs, vielleicht auch nach Planungssicherheit, indem ich überlege, wie ich den nächsten Tag gestalten möchte. Und wenn ich dann auf der Couch sitzen bleibe, ist das nicht anders: Ich erfülle mir dann Bedürfnisse z.B. nach Erholung (weil ich eigentlich zu erschöpft für Sport bin), vielleicht nach Gemeinschaft (weil ich lieber Zeit mit meiner Familie verbringe), nach Unterhaltung (weil mir diese Art Sport nicht so viel Spaß macht wie einen guten Film zu gucken), vielleicht sogar nach Autonomie (weil ich eigentlich gar keinen Bock aufs Fitness-Studio habe, sondern es mir nur wegen Glaubenssätzen im Kontext von Schönheitsidealen vornehme). Zu solchen Deutungsalternativen hat unser kapitalistisches Werteverständnis jedoch fast mein ganzes Leben lang keinen Zugang erlaubt. Denn Kapitalismus profitiert von der Konstruktion von „Faulheit“ und seiner moralischen Abwertung.

Aber was heißt „Faulheit“ eigentlich? Im Grunde sind wir dann nicht „faul“, wenn wir das erledigen, was eben getan werden muss. Und was das ist, was wir erledigen müssen, hängt von unserer sozialen Positionierung ab. Deshalb gelten reiche Menschen (z.B. Erb*innen), auch nicht als „faul“, wenn sie nicht lohnarbeiten, oder Männer in heterosexuellen Beziehungen, die wenig bis nichts zu Care-Arbeit und Haushalt beitragen.

Spannend fand ich neulich einen Twitter-Thread, den ich auch in meiner letzten Kolumne verlinkt habe. Darin zeigt Paul Fairie, dass das Narrativ „Heutzutage will niemand mehr arbeiten“ wahrhaftig kein neues Phänomen ist, und listet Artikelausschnitte mit dieser Behauptung aus den letzten Jahrzehnten bis hin zum Ende des 19. Jahrhunderts auf. Offensichtlich sind Politik und Wirtschaft schon sehr lange sehr unzufrieden mit der Arbeitsmoral der Bevölkerung – und erklären es sich mit: „Faulheit“ durch Werteverfall. Das ist komfortabel, denn wenn das Problem die Arbeitsmoral der Menschen ist, braucht man sich nicht damit auseinandersetzen, dass die Arbeitsbedingungen in bestimmten Berufen so unwürdig und entfremdet sind, dass Menschen sich ihnen nur dann unterwerfen, wenn sie die pure Überlebensnot treibt. Das geht so weit, dass z.B. ein konservativer Sender wie Fox News unverhohlen Hunger als Motivation für Lohnarbeit vorschlägt, oder dem Namen nach sozialdemokratische Politiker wie Gerhard Schröder und Franz Müntefering Dinge sagen wie „Es gibt kein Recht auf Faulheit“ oder „Nur wer arbeitet, soll auch essen“ und steckt in politischen Entscheidungen wie den extrem niedrigen Hartz4-Sätzen und Sanktionen bei Ablehnung für „zumutbare“ Arbeitsstellen, die auch bei der Bevölkerung viel Zustimmung finden. Dahinter steckt ein Menschenbild, das „Faulheit“ als natürliche Default-Eigenschaft unterstellt, die – zur Not mit Zwang – bekämpft und unterdrückt werden muss.

Und so erstreckt sich Glorifizierung und moralische Selbstaufwertung durch harte Arbeit nicht nur über alle sozialen Schichten hinweg. Vielmehr weitet sich das Bestreben und die Beurteilung danach, bloß nicht darin zu verfallen, „auf der faulen Haut“ zu liegen, auf alle möglichen Bereiche unseres Lebens aus. Wie viel unserer Zeit dürfen wir von unserer Produktivität eigentlich abzwacken? Und es ist eine tragische Verwicklung, dass gerade unsere Erschöpfung durch das viele Arbeiten dafür sorgt, dass sich Dinge, die uns eigentlich Freude bringen, sich anfühlen können wie etwas das wir erledigen müssen, wie soziale Kontakte, Hobbys, Ausflüge oder Selbstfürsorge, weil uns dafür die Energie fehlt und unser System sich eigentlich nur nach Ruhe und Entzerrung sehnt. Aber vielen Menschen – einschließlich mir – fällt es schwer, da hinzukommen, selbst wenn sie nicht die ganze Zeit rödeln. Mein System nimmt sich einfach die Pausen, die es braucht, indem es kurzerhand in den Boykott geht. Das zeigt sich dann z.B. durch Prokrastination. Ich mache dann nicht das, was ich eigentlich erledigen müsste, sondern surfe z.B. stumpf im Internet. Aber das fühlt sich natürlich kein bisschen erholsam an, denn währenddessen bin ich voll im Stress, weil ich dazu sozialisiert bin zu finden, dass ich gar keine Pause verdient habe, bevor ich eben nicht mein Leistungspensum erreicht habe. Diese Dynamik, von Lohnarbeit und Care-Arbeit zu erschöpft für die schönen Dinge des Lebens zu sein, sich Rast kaum zu gönnen oder währenddessen gestresst zu sein, führt dazu, dass es für viele Menschen zunehmend schwer ist, dann überhaupt für Entspannung zu sorgen. Wie geht das noch mal…? Und dürfen wir das überhaupt? Woher wissen wir denn, dass wir genug erledigt haben? Wie können wir sicher sein, dass wir wirklich rasten und nicht „faul“ sind…?

Noch mal hilfloser sind bestimmte Personengruppen dem Konzept von Faulheit ausgeliefert: Menschen mit Depressionen, denen schon das aus-dem-Bett-Kommen schwerer fällt als psychisch gesunden Menschen. Oder ADHSler*innen mit Executive Function Disorder. Oder Menschen mit Angststörungen. Und das gilt übrigens auch für dick_fette Menschen. Da wir Faulheit ja als etwas verstehen, für oder gegen das man sich entscheiden könnte, und es essenziell zu Diskriminierung gehört, sich zum einen gar nicht für die tatsächliche Lebensrealität der jeweilig Betroffenen zu interessieren, und zum anderen zu leugnen, dass es bei den diskriminierenden Narrativen um unwahre Vorurteile geht, wird dick_fetten Menschen pauschal unterstellt, quasi freiwillig dick_fett zu sein. Schönheitsideale für Männer existieren zwar, werden aber immer noch eher als optional betrachtet – dies gilt jedoch nicht für Frauen. Und das bedeutet, dass Dick_Fettfeindlichkeit unterm Strich bedeutet, dick_fette Frauen erstens dafür zu sanktionieren, dass sie zu faul und undiszipliniert wären (weil sie ja einfach weniger essen und sich mehr bewegen könnten, right...?) und sich zweitens auf diese monströse Weise der Erfüllung ihrer ästhetischen Verpflichtungen verweigern. Grund genug, ihnen Kompetenz und Fähigkeit zu Professionalität abzusprechen und sie bei Bewerbungsgesprächen und Beförderungen zu übergehen, oder…?

Und dann gibt es auch Gesellschaften und Volksgruppen, in denen das Wertesystem gar nicht die Wirtschaft, sondern etwa das soziale Miteinander oder Spiritualität zentrieren, so dass Arbeit dort eine grundsätzlich andere, untergeordnete und eher funktionale statt moralische Bedeutung hat – und dafür von „westlichen“ Gesellschaften in einem Gemengelage von Kapitalismus und White Supremacy in ihrer gesamten Gesellschaftsstruktur herabgewertet werden.

Die Autorin Margarete Stokowski twittert seit einiger Zeit über ihr Leben mit Long Covid. Und bekommt dafür nicht nur Kommentare wie diesen hier:

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Sondern muss sich auch regelmäßig anhören, dass ihre Krankheit doch eine Chance sei, endlich mal kürzer zu treten. What a time to be alive! Wir brauchen eine chronische Erkrankung um Erholung zu finden. Wir brauchen Menschen wie Tricia Hershey, die die Nap Ministry gründete, um uns – gleichsam aktivistisch – die politische und spirituelle Wichtigkeit von Rast und Erholung deutlich zu machen.

Der buddhistische Mönch und Autor Thích Nhất Hạnh beschrieb mal (sinngemäß), dass es in seiner Sanga (=spirituelle Gemeinschaft) einen freien Tag pro Woche gebe. Allerdings könne man an diesem freien Tag nicht machen was man wolle, sondern es müsse wirklich ein freier Tag im Sinne von „Nichtstun“ sein, es sei kein Tag, den man dafür nutzen kann, um endlich mal das olle Regal anzubringen oder den Papierkram zu sortieren. Ich schleiche schon lange um die Vorstellung herum, mir mal auf diese Weise freizunehmen. Ich finde sie gleichermaßen beängstigend wie befreiend. Einfach mal… nichts zu machen! Ganz ohne „faul“ zu sein!

Lesetipps:

Tricia Hersey: Rest is Resistance. A Manifesto.

Devon Price: Laziness does not exist.

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Mit dieser Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von Wildling Shoes den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“. Unsere Kolumnist*in für das Jahr 2022 ist Sohra Behmanesh.