Mit (Spür-)Sinn gegen Brustkrebs und für Inklusion

Wie die Zukunft für discovering hands - ein Unternehmen, welches blinde und sehbehinderte Frauen zu Medizinsch-Taktilen Untersucherinnen (MTUs) ausbildet - aussehen könnte.

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von Gudrun Heyder, May 13, 2019
discovering hands

An keinem Punkt der Menschheit war die medizinische Versorgung so fortschrittlich wie heute - nie hatten Neugeborene eine höhere Lebenserwartung. Dennoch stehen die klassischen Behandlungsmethoden gerade unter massiven Beschuss. Egal ob Impfen oder Antibiotika - viele bewährte Therapien werden in Frage gestellt. Grund genug für tbd* sich im Monat Mai dem Thema Gesundheit und der Frage zu widmen: Wie sieht eigentlich die Zukunft der Gesundheit aus? Hier kannst du alle Artikel zum Thema nachlesen.

discovering hands ist ein gemeinnütziges Sozial- und Inegrationsunternehmen, welches blinde und sehbehinderte Frauen zu medizinisch-taktilen Untersucherinnen ausbildet, die Brustkrebs im Frühstadium erkennen sollen. Wir haben Gudrun Heyder, die bei discovering hands in Marketing & Kommunikation arbeitet, gefragt, wie ihre Zukunftsvison für das Unternehmen ausschauen könnte. Dabei ist folgender fiktiver Ausblick in das Jahr 2028 entstanden:

Ein Frühlingstag im Mai 2028. Mit meiner Freundin Julia bin ich unterwegs zum discovering hands-Zentrum in Düsseldorf. Bei mir steht die alljährliche Taktilographie an und sie wird auf meine Empfehlung hin die Anleitung zur Taktilen Selbstuntersuchung wahrnehmen. „Du gehst doch schon lange ins dh-Zentrum, erklär mir nochmal, was auf mich zukommt“, bittet mich Julia.

Stimmt, „meine“ Medizinisch-Taktile Untersucherin (MTU) im dh-Zentrum ist für mich längst eine vertraute Ansprechpartnerin, auf die ich mich jedes Mal freue. „Die Taktilographie ist eine 30-bis 60-minütige systematische Tastuntersuchung der Brust, äußerst gründlich“, erzähle ich. „Meine MTU ist blind und hat daher einen wesentlichen besseren Tastsinn als sehende Menschen. Sie kann mit ihren Fingerspitzen viel kleinere Gewebeveränderungen spüren als Sehende. Diese haben ohnehin bei der Vorsorgeuntersuchung nur wenige Minuten Zeit zum Brustabtasten. Die MTUs nehmen sich viel Zeit und sind auf Brustuntersuchungen spezialisiert. MTU ist ein eigenständiger Beruf, den nur hochgradig sehbehinderte Frauen ausüben können. Der Duisburger Frauenarzt Dr. Frank Hoffmann hat ihn vor 20 Jahren erfunden und die Fortbildung dafür entwickelt. Inzwischen gibt es MTUs in Europa, Asien und Mittelamerika.“


Dr. Frank Hoffmann

„Wie schön, dass die Frauen gerade wegen ihrer Behinderung etwas so Sinnvolles machen können!“, meint Julia. „Und wie läuft die Anleitung zur Selbstuntersuchung?“ Meine Freundin ist – wie erschreckenderweise inzwischen jede siebte Frau in Deutschland im Laufe ihres Lebens – an Brustkrebs erkrankt, schon mit 35 Jahren. OP, Chemo und Bestrahlung hat sie hinter sich und fühlt sich gesund. Aber der Krebs kann wiederkommen, und deshalb lässt sich Julia regelmäßig durchchecken. Der vor zehn Jahren in die medizinische Diagnostik eingeführte Bluttest hat sie bereits früh als Risikopatientin ausgewiesen.

Aus diesem Grund bezahlt ihre Krankenkasse neben den apparativen Untersuchungen auch die Taktilographie

Dieser Test kommt inzwischen flächendeckend zum Einsatz und führt dazu, dass Risikopatientinnen wie Julia intensiv überwacht werden. Aus diesem Grund bezahlt ihre Krankenkasse neben den apparativen Untersuchungen auch die Taktilographie. Diese ist in der Lage, Hinweise auf Gewebeveränderungen zu geben, die Mammographie und Ultraschall vielleicht verborgen bleiben. Besonders hoch schätzen die Frauen mit erhöhtem Risikoprofil die zugewandte persönliche Betreuung durch die MTUs, die auch auf ihre häufig unbegründeten Ängste, Sorgen und Unsicherheiten eingehen.

Die „Anleitung zur Taktilen Selbstuntersuchung“ (ATS) gehört ebenfalls zum Leistungsangebot der MTUs.Deshalb nehme ich Julia mit ins dh-Zentrum. Eine Stunde lang schult die MTU jede Frau individuell an deren eigener Brust darin, sich nach einem festgelegten Ablauf selbst abzutasten. Die Frau lernt die „Struktur“ ihrer Brust kennen und wird Veränderungen recht sicher aufspüren, wenn sie sich dann einmal im Monat selbst abtastet. Das ist immens wichtig für Gesunde - denn die meisten Frauen entdecken verdächtige Knoten selbst -, aber auch für Frauen, die bereits erkrankt waren. Viele sind unsicher, wie sie tasten sollen, und vernachlässigen diese wichtige Säule der Früherkennung. Sie gelingt viel besser nach einer Anleitung an der eigenen Brust.

„Die MTU erklärt Dir ausführlich, wie das Selbstabtasten geht. Du kannst sie alles fragen“, erkläre ich Julia. „Wie gehe ich damit um, dass sie blind ist?“, will sie wissen. „Das ist unkompliziert, für sie ist die Situation ja normal. Bei mir und meiner MTU läuft das völlig entspannt.“ Julia: „Okay, ich verstehe. Was bietet das dh-Zentrum denn noch alles an?“

„Außer den 20 MTUs arbeiten dort vier Gynäkolog*innen. Direkt nach jeder Taktilographie – wie heute bei mir - überprüfen sie den Befund der MTU. Im seltenen Fall eines auffälligen Befundes untersuchen sie die Brust per Ultraschall und veranlassen, falls erforderlich, weitere Schritte. Denn die MTUs befunden nur, Fachärztin oder Facharzt stellen die Diagnose und tragen die Verantwortung dafür.

Die MTUs führen auch Tastuntersuchungen an anderen Organen durch, zum Beispiel an der Schilddrüse. Sie informieren außerdem über weitere Vorsorgethemen wie gesunde Lebensführung und andere Vorsorgeangebote der Krankenkassen. Die meisten Kassen erstatten diese Zusatzvorsorgen. Im dh-Zentrum erhältst Du auch die Bonuspunkte für Dein Präventionskonto, das seit einigen Jahren maßgeblich die Höhe Deines Krankenkassenbeitrages beeinflusst. dh-Zentren gibt es bisher in 25 deutschen Großstädten und der Zulauf ist enorm. Auch viele Selbsthilfegruppen für Krebserkrankte sind hier angedockt.“


Kugelkette

Die discovering hands-Vorsorge- und Diagnose-Zentren haben inzwischen eine wichtige Rolle im Gesundheitswesen eingenommen. Ursache ist der beträchtliche Strukturwandel im ambulanten Sektor: Viele Fachärzte sind nach 2020 fast gleichzeitig in den Ruhestand gegangen. Sie hatten sich alle vor Wirksamwerden des Vertragsarzt-Änderungsgesetzes von 1992 niedergelassen. Nur 30 Prozent der frei gewordenen Sitze konnten nachbesetzt werden. Und mehr als 90 Prozent der Gynäkologen sind weiblich – viele von ihnen arbeiten der Familie zuliebe vorzugsweise in einem Teilzeit-Angestelltenverhältnis.

Die ambulante Betreuung haben überwiegend die von Privatunternehmen betriebenen Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) übernommen. Aufgrund der deutlich reduzierten Anzahl verfügbarer Fachärzt*innen müssen sie jedoch viel mehr behandelnde als vorsorgende Medizin betreiben. Es fehlt einfach an fachlich geschulten Untersucher*innen. Die entstandene Lücke im Bereich Brustkrebsfrüherkennung füllen inzwischen erfolgreich die dh-Zentren aus.

„Viele Frauen haben sich proaktiv für eine Mitbetreuung in einem Zentrum entschieden“, berichte ich Julia. Wie ich von meiner MTU weiß, fühlen sie sich laut Umfragen der fortlaufenden dh-eigenen Qualitätskontrolle dort optimal betreut. Dass die MTUs sich im Wortsinn mit den Menschen „befassen“, stillt ein sogar deutlich gesteigertes Grundbedürfnis. Ärzt*innen haben oft wenig Zeit für persönliche Zuwendung und ausführliche Gespräche. Genau das zeichnet aber die Medizinisch-Taktilen Untersucherinnen aus.

„Die fortschreitende Technisierung der sozialen Umwelt und des Gesundheitswesens vernachlässigt das so entscheidende menschliche Miteinander. Telemedizin, Pflege-Roboter, Online-Psychotherapie – das kann alles richtig eingesetzt Sinn machen, aber niemals ersetzen, dass mir jemand nahe ist, mich berührt, mir beisteht“, betone ich. „Auch die zum Alltag gewordenen Klimakatastrophen und die sozio-politischen Dauerkrisen rufen Probleme hervor, mit denen der einzelne Mensch zunehmend überfordert ist.“

Nun sind wir im dh-Zentrum angelangt und werden freundlich in Empfang genommen. Julia und ich begeben uns in die Hände zweier MTUs. „Wie geht es Ihnen“, frage ich meine MTU Ingrid. „Danke, prima“, antwortet sie vergnügt. „Noch vor sechs Jahren, als ich wegen meiner Sehbehinderung arbeitslos war, hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich auf dem ersten Arbeitsmarkt eine unbefristete Stelle finden würde - und das nicht im Callcenter, sondern in einem für meine Kompetenzen maßgeschneiderten Beruf! Meine Patientinnen sind so dankbar dafür, dass es uns MTUs gibt. Wir wachsen mit unseren Aufgaben…“, sinniert sie, während sie die Taktilographie mit dem sorgsamen Abtasten meiner Lymphknoten beginnt. - „Gibt es denn neue Aufgaben?“

„Die Vorsorge und die Früherkennung von Brustkrebs haben sich verschlechtert“, erklärt Ingrid. „Die Vorsorgeuntersuchung beim Frauenarzt findet wegen des Ärztemangels nur noch im dreijährigen Rhythmus statt. Das ist viel zu selten. Die Anzahl der Brustkrebs-Erstdiagnosen in fortgeschritteneren Stadien, in denen eine Heilung viel seltener möglich ist, hat sogar erstmals wieder zugenommen Und das Mammographie-Screening können nur Frauen zwischen 50 und 69 Jahren wahrnehmen. Ein erheblicher Teil der Frauen erkrankt aber schon in jungen Jahren!“ Ja, das weiß ich.


MTU Taststreifen

Frauen müssen ihre Brustgesundheit selbst in die Hand nehmen“, fährt meine MTU fort. „Deshalb ist mein Terminkalender für die ATS und die Taktilographie immer voll. Es geht nicht nur um die körperliche Gesundheit, sondern auch um emotionale Themen, denn wir arbeiten hier ganzheitlich.“ Sie fährt fort, meine Brust zentimeterweise abzutasten. Dabei orientiert sie sich an haptisch markierten Streifen, die sie vorher auf meinen Oberkörper geklebt hat.

Eine Stunde später fahren Julia und ich zurück. „Jutta, meine MTU, hat mich enorm motiviert, mich regelmäßig selbst abzutasten“, freut sich Julia. „Jetzt weiß ich ja, wie es geht! Kannst du mir noch mehr über discovering hands erzählen? Ich sehe ab und zu Berichte in den Medien über das Unternehmen, aber der große Zusammenhang fehlt mir noch.“ Ich bin ebenfalls guter Dinge, denn meine Taktilographie war ohne Befund. Ich gebe Julia gerne Auskunft.

„Das Sozialunternehmen discovering hands wurde 2011 in Mülheim an der Ruhr von Dr. Frank Hoffmann gegründet und hat sich längst zu einer verlässlichen Kraft am Markt entwickelt. Die Qualifikation zur MTU ist seit 2024 auch eine staatlich anerkannte Berufsausbildung nach dem Berufsbildungsgesetz. Daher ist diese Tätigkeit für alle hochgradig sehbehinderten Frauen in Deutschland eine echte und häufig gewählte Alternative zu anderen blindengerechten Berufen. Die Zahl der MTUs hat sich spätestens seitdem schlagartig erhöht.

2019 haben McKinsey und Ashoka in einer Studie einen volkswirtschaftlichen Nutzen von 80 bis 160 Millionen Euro pro Jahr alleine in Deutschland hochgerechnet, wenn MTUs dort flächendeckend arbeiten würden. Das lässt sich Jahr für Jahr besser belegen, auch in anderen Ländern wie den Niederlanden und der Schweiz. Das sozialunternehmerische Modell wurde dort schneller und proaktiver als in Deutschland in die medizinische Versorgungslandschaft integriert.“

„discovering hands vereint viele Vorteile“ schließe ich meinen Kurzvortrag ab. „Menschen mit Behinderungen sind in Arbeitsmarkt und Gesellschaft vorbildlich integriert, Vorsorge und Früherkennung haben sich wesentlich verbessert, Frauen finden kompetente, zusätzliche Ansprechpartnerinnen rund um ihre Gesundheit und die öffentliche Hand spart Kosten durch verhinderte und weniger aufwändige Behandlungen, geringere Ausfallzeiten im Beruf sowie entfallende Kosten für frühberentete Schwerbehinderte. Und das Beste und Wichtigste ist: MTUs haben schon so manches Leben gerettet.“


Autorin Gudrun Heyder

Über discovering hands:

Jedes Jahr erkranken in Deutschland mehr als 70.000 Frauen an Brustkrebs, 18.000 sterben daran. Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung und eine der häufigsten Todesursachen bei Frauen.

discovering hands bietet hochgradig sehbehinderten Frauen eine einzigartige Tätigkeit mit Sinn und Anerkennung: Oftmals werden Empfängerinnen von Schwerbehindertenrente zu Berufstätigen auf dem ersten Arbeitsmarkt. discovering hands stellt die MTU selbst ein und „verleiht“ sie per Arbeitnehmerüberlassung wohnortnah an niedergelassene Gynäkologen. Die Praxen bestellen die Patientinnen an ihrem jeweiligen „MTU-Tag“ ein. Die MTU hat ihren festen Einsatzplan und die Sicherheit einer unbefristeten Festanstellung.Ziel ist, bis 2020 mehr als 100 MTUs zu beschäftigen. Derzeit sind etwa rund 45 MTUs an 90 Standorten deutschlandweit beschäftigt, weitere im Ausland.

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