Hilfsmittel bedeuten Selbstständigkeit

Sven Papenbrock berichtet hier welche verschiedene Hilfsmittel es gibt, wie man sie beantragen kann und welche Erfahrungen er und seine Kolleg*innen mit ihnen machen.

Teilen
von Sven Papenbrock, December 5, 2023
Sven Papenbrock

Ich komme mit Freude um halb 10 Uhr ins Büro der Sozialheld*innen. Heute ist ein besonderer Tag für mich, denn es kommt ein Mitarbeiter von einer Hilfsmittelfirma zu uns. Er ist um 11 Uhr da und holt aus einem Karton eine Tastatur mit großen Tasten und einen Trackball. Ein Trackball ist eine besondere Maus, bei dem die Tasten ein bisschen größer sind. In der Mitte ist ein großer Ball.  

Der Mitarbeiter fixiert den Trackball und die Tastatur mit Halterungen an meinem Schreibtisch. Ich habe eine körperliche Behinderung. Der Trackball wird meine Arbeit erleichtern. Ich werde mehr Sachen an meinem Laptop alleine machen können. Zum Beispiel Termine einstellen, Mails öffnen oder Fotos bearbeiten für die Wheelmap. Die Tastatur hat größere Tasten als eine normale Laptop-Tastatur und ist dadurch besser für mich zu bedienen. Dadurch kann ich einzelne Wörter und Sätze, wenn meine Jobcoach*innen sie mir diktieren, selbstständig schreiben.

Es gibt viele verschiedene Hilfsmittel, zum Beispiel Sehhilfen, Hörhilfen, Körperersatzstücke oder orthopädische Hilfsmittel. Es gibt Hilfsmittel für den Alltag und welche für die Arbeit. Es gibt Hilfsmittel, die man schon fertig im Laden kaufen kann und welche, die man erst mit den passenden Maßen anfertigen lassen muss. Entweder sollen Hilfsmittel eine drohende Behinderung vorbeugen oder sie sollen bei der Bewältigung des Alltags helfen. Neben analogen Hilfsmitteln, wie meiner Tastatur, gibt es auch digitale Hilfsmittel, zum Beispiel barrierefreie Apps oder Screenreader, die Texte vorlesen. 

Die Kosten für die Hilfsmittel übernimmt die Krankenkasse oder die Agentur für Arbeit bzw. Rentenversicherung. Bei mir war es die Krankenkasse. Menschen, die eine Einschränkung oder eine Behinderung haben bzw. im Laufe ihres Lebens bekommen, haben einen Anspruch auf Hilfsmittel. Es gibt unterschiedliche Hilfsmittelanbieter. Man kann seine Hilfsmittel entweder online bestellen, oder auch vor Ort in einem Sanitätshaus, bei Optiker*innen oder bei Hörgeräteakustiker*innen.

Eine Kollegin von mir hat mir in einem Gespräch erzählt, wie sie selbst schon einmal Hilfsmittel beantragt hat. Marie Lampe hat eine Sehbehinderung und verwendet digitale und analoge Hilfsmittel, in ihrem privaten Umfeld und auch auf der Arbeit. Ein analoges Hilfsmittel, das sie beantragt hat, ist eine Braillezeile. Eine Braillezeile ist eine Tastatur mit Braille-Zeichen, mit der Menschen mit Sehbehinderung alleine am Computer arbeiten können. Damit können sie Texte am Computer verfassen. 

Um diese besondere Tastatur zu beantragen, musste Marie zuerst ein Rezept mit ihrer Diagnose vom Augenarzt bekommen. Damit ging sie anschließend zu einem Hilfsmittelanbieter. Der Hilfsmittelanbieter regelte dann mit ihrer Krankenkasse, dass diese die Kosten für ihr benötigtes Hilfsmittel übernimmt. Nach zwei Monaten hat Marie die Braillezeile bekommen. Doch Marie erzählt, dass die Beantragung und die Bewilligung häufig auch viel länger dauert.

Als ich meine Hilfsmittel beantragen wollte, rief ich zuerst bei einer Hilfsmittelfirma an. Eine Kollegin von mir hatte mir die Firma empfohlen. Zwei Wochen später kam eine Mitarbeiterin der Firma ins Büro der Sozialheld*innen und zeigte mir verschiedene Tastaturen und einen Trackball. Eine der Tastaturen war sehr bunt. Das hätte mich bei der Arbeit irritiert. Ich entschied mich für eine schwarzweiße Tastatur. 

Die Mitarbeiterin der Hilfsmittelfirma schrieb mir auf, was auf der Verordnung für die Krankenkasse stehen muss: “Computer-Eingabehilfen für den Arbeitsalltag”. Die Verordnung bekommt man von seinem Hausarzt oder der Hausärztin. Es ist wichtig, dass man dafür eine gute Diagnose bekommt. Sonst könnte es passieren, dass die Krankenkasse das Hilfsmittel sofort ablehnt und man einen Widerspruch einlegen muss. Oder die Krankenkasse schickt Mitarbeiter*innen vom medizinischen Dienst zur Überprüfung vorbei, ehe sie die Hilfsmittel bewilligen. Wie bei Marie, dauerte die Beantragung und Bewilligung meiner Arbeitshilfsmittel zwei Monate.

Es gibt auch Hilfsmittel, die man nicht extra kaufen oder beantragen muss. Das erzählte mir mein Kollege Jonas Karpa. Er hat seit 2014 eine Sehbehinderung. Er erzählte, dass er zum Arbeiten immer hauptsächlich sein Smartphone verwendet. Damit liest er Texte und vergrößert sie mit der Lupenfunktion. Er findet, dass es leichter ist, Texte am Smartphone zu lesen als am Laptop, weil man sich dabei viel bewegen kann. Auch Marie verwendet das Smartphone als Hilfsmittel. Mit der Spracherkennung schreibt sie damit Texte. 

Es gibt jetzt schon viele verschiedene Hilfsmittel. Aber Marie hat den Traum, dass es in Zukunft noch mehr davon gibt. Sie sagte mir in unserem Gespräch:

“Ich wünsche mir, dass Programme grundsätzlich barrierefrei sind. Dass ein Arbeitsverhältnis nicht daran scheitert, dass es nicht die passenden Programme gibt. Ansonsten wäre mein Traum ein Hilfsmittel zu haben, das mir meine Umgebung so beschreibt, dass ich mich gut orientieren kann. Ich bin im Arbeitsalltag viel unterwegs, aber es stresst mich, so oft nach Hilfe fragen zu müssen, weil ich Eingänge nicht finde oder irgendwo falsch abgebogen bin.” 

Ein Traum von mir wäre es, wenn Hilfsmittel dazu führen würden, Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt am Berufsalltag teilnehmen zu lassen. Davon sind wir jedoch leider noch sehr weit entfernt.

 

Mit unserer Belonging Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von LichtBlick den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Unsere Kolumnist*innen für das Jahr 2023 sind die engagierten Aktivist*innen von SOZIALHELDEN e.V. mit dem Themenschwerpunkt Behinderung & Intersektionalität am Arbeitsplatz. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“.“

Die Sozialheld*innen setzen sich für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ein. Sie bezeichnen sich auch als konstruktive Aktivist*innen. Ihr Team besteht aus Medienschaffenden, Kommunikateur*innen, IT-Spezis und vielen weiteren kreativen und engagierten Menschen, die nach dem Motto “einfach mal machen” handeln. Mit über 15 Projekten arbeiten die Sozialheld*innen am sogenannten Disability Mainstreaming und wurden bereits vielfältig ausgezeichnet.

Foto: Andi Weiland

Hier könnt ihr mehr Artikel aus unserer Belonging Kolumne lesen: https://www.tbd.community/de/t/tobelonging