Neurodiversität in unserer Arbeitswelt

Das übersehene Potential neurodiverser Teams.

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von Jana Steuer – Diversicon, September 29, 2021

Header: von Janina Gallert

Neurodiversität bedeutet neurologische Vielfalt. Der Begriff wurde in den 1990er Jahren von der Autistin Judy Singer erstmalig in ihrer Bachelorarbeit verwendet. Neurodiversität stand vor allem für eine Behindertenrechtsbewegung und für eine neue Sichtweise auf Autismus und Behinderung. Seitdem ist Neurodiversität zu einem Überbegriff geworden, der versucht das breite Spektrum von unterschiedlicher neurologischer Entwicklung zusammenzufassen. Verschiedene sogenannte Entwicklungsstörungen, zu denen unter anderem Autismus, die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts- Störung (ADHS), Dyslexie (vormals Lese-Rechtschreibschwäche) zählen, werden zunehmend als eine Variante von Entwicklung betrachtet. Menschen die sich im Spektrum der Neurodiversität verorten, sind neurodivergent. Menschen der Entwicklung deren psychologischen und medizinischen Norm entsprechen, werden dagegen als neurotypisch bezeichnet. Neurodiversität ist unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Bildungsstand oder Herkunft und sehr oft unsichtbar.

Dieser Artikel möchte einen Einblick geben vor welchen Herausforderungen neurodivergente Menschen im Arbeitsalltag stehen, was Arbeitgeber tun können und über welche Potentiale neurodiverse Teams verfügen. In diesem Artikel wird bewusst auf „Person first language“, wie Person mit Autismus verzichtet. Neurodiversität ist ein Teil der persönlichen Identität, dies soll in der Sprache berücksichtigt durch Formulierungen wie „autistische Person“ reflektiert werden.

Neurodiverse Teams arbeiten effektiver

Teamarbeit nimmt in unserer Arbeitswelt einen hohen Stellenwert ein. Sie stellte in den letzten Jahrzehnten ein zentrales Element für eine emanzipatorische Veränderung von traditionellen Arbeitsbedingungen und starren Hierarchien dar. Arbeitsteams entfalten sich kreativ, arbeiten agil und innovativ. Der Erfolg eines Teams hängt nicht unwesentlich davon ab unter welchen Rahmenbedingungen, zu welchen Aufgabenstellen und nicht zuletzt mit welchen Arbeitsaufgaben die Zusammenarbeit stattfindet. Die Stärken und Vorteile neurodiverser Teams sind laut Studien, dass gemischte Teams über eine höhere kollektive Intelligenz verfügen, sich besser auf Herausforderungen einstellen können, qualitativere Entscheidungen treffen und etwa 30% effektiver arbeiten. Gelingt die Inklusion neurodivergenter Kolleg*innen verbessert sich die Zusammenarbeit und Produktivität von Teams nachweislich.

Von vielen Anpassungen profitieren langfristig nicht nur neurodivergente Menschen. Auch neurotypische Arbeitnehmer*innen können von einer reizarmen Arbeitsumgebung, transparenten Abläufen und einer klaren, strukturierten Kommunikation profitieren, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Neurodivergente Mitarbeiter*innen denken buchstäblich „anders“. Sie bringen andere Perspektiven und Erfahrungen in ein Team ein und können so wesentlich zu mehr Kreativität und Innovation beitragen.

Diversicon ist ein Sozialunternehmen aus Berlin, das Autist*innen und ADHSler*innen mit Beratung, Coachings und Kursen in allen Phasen des Berufslebens begleitet. Gleichzeitig bietet Diversicon Workshops für neurodiverse Teams an und berät Unternehmen, die sich diverser aufstellen wollen.

Mehr Infos unter diversicon.de.

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel!

Über viele Jahrzehnte wurden Formen der Neurodiversität, wie Autismus rein medizinisch betrachtet. Nachdem behinderte Menschen mit ihren Forderungen nach Gleichheit und Selbstbestimmung seit 1960er Jahren in den Ländern des globalen Nordens ein Umdenken in der Gesellschaft und Wissenschaft anstoßen konnten, gewann das Soziale Modell von Behinderung an Bedeutung in gesellschaftlichen und akademischen Diskursen. In den späten 1990er Jahren prägte Judy Singer den Begriff Neurodiversität. Judy Singer betrachtet Neurodiversität als eine Bewegung, die Autismus als einen Bestandteil der individuellen Identität betrachtet, welcher nicht verändert werden sollte.

Sowohl Neurodiversität als auch das Soziale Modell von Behinderung betrachten Behinderung und Varianzen in der Entwicklung als das Ergebnis einer Interaktion zwischen einem nicht-standard Individuum und einem Umfeld, welches nicht zu den individuellen Bedürfnissen passt. (Leadbitter et al. 2021) Angeborene neurologische Ausprägungen sowie die individuelle Entwicklung können sehr unterschiedlich sein. Neurologische Vielfalt wird daher als „Normalität“ betrachtet.

In unserem beruflichen Alltag, der häufig von Leistung und Ergebnissen bestimmt ist, finden wir jedoch Bedingungen vor, die für neurotypische Menschen ausgelegt sind. Dies beginnt bei Bewerbungsprozessen über Management Praktiken und schließlich dem Arbeitsumfeld.

Neurodiversität kann sich in unterschiedlichen Bereichen der Persönlichkeit zeigen, dazu gehören Lernen, Denkweise, Motorik, Struktur, Interaktion, Sprache und Wahrnehmung. Für das Umfeld ist Neurodiversität häufig in Verhaltensweisen und Eigenschaften erkennbar. Viele neurodivergente Menschen erleben beispielsweise eine hohe Sensibilität gegenüber Reizen aus der Umwelt. Die Folge können ein stärkeres individuelles Stresserleben und ein hoher Rückzugsbedarf sein. Kleine Anpassungen am Arbeitsplatz, flexible Pausenregelungen oder die Benutzung von Noise Cancelling Kopfhörern können bereits eine große Entlastung sein. Viele Herausforderungen und Besonderheiten kennen auch neurotypische Menschen. Der Unterschied liegt jedoch in der Ausprägung und der Intensität.

Neben besonderen Bedürfnissen bringen neurodivergente Menschen Stärken mit. Viele neurodivergente Menschen verfügen über eine sehr hohe intrinsische Motivation für Aufgaben und Tätigkeiten die, ihren individuellen Interessensgebieten entsprechen. Sie können in kurzer Zeit ein hohes Maß an Wissen erwerben und abrufen, entwickeln kreative Problemlösestrategien und neue Perspektiven. Sowohl Bedürfnisse, als auch Stärken neurodivergenter Menschen können individuell sehr verschieden sein. Jede Person verfügt über ihr eigenes Stärken- und Bedürfnis- Profil, dass es mit Berufswahl und Arbeitsumfeld in eine gesunde Balance zu bringen gilt. Hier können Arbeitgeber und Kolleg*innen entscheidend mitwirken.

Herausforderungen in der Arbeitswelt

Arbeit ist einer der entscheidenden Lebensbereiche, der gesellschaftliche Teilhabe, finanzielle Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit ermöglicht. Zudem gibt Arbeit eine Tagesstruktur, kann bedeutender Teil der eigenen Identität sein und das Selbstwertgefühl beeinflussen.

Trotz überdurchschnittlicher Bildungserfolge im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung, sind ein großer Teil der autistischen Menschen in Deutschland nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt. (vgl. Riedel et al. 2016) Darüber hinaus ist es für Autist*innen deutlich schwieriger eine ihren Qualifikationen entsprechende Arbeit zu finden und diese dann auch langfristig zu halten. Für Personen mit anderen Formen der Neurodiversität, wie etwa ADHS liegen leider keine vergleichbaren Daten vor.

Die ADHS Coaches Ortrud Sander und Ute Kögler haben Berufstätige im Alter von ca. 30 – 60 Jahren mit und ohne ADHS interviewt, um aus deren Perspektive zu erfahren, welche Faktoren für den beruflichen Erfolg relevant sind und ob es Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne ADHS gibt.

Sie kommen zu dem Schluss, dass ADHSler*innen nicht unbedingt etablierten Karrierepfaden folgen. Stattdessen finden Sie für sich berufliche Nischen. Wichtig für die interviewten Personen war vor allem eine Struktur, die Halt gibt und gleichzeitig Freiräume für eigene Ideen bietet.

Die Herausforderungen im Berufsleben beginnen bereits in der Phase der Berufswahl. Das Umfeld drängt eventuell darauf eine Entscheidung zu treffen, Angebote zur beruflichen Orientierung sind auf eine neurotypische Zielgruppe ausgerichtet. So stellen Sander und Kögler fest, dass in der Literatur zum Thema ADHS im Erwachsenenalter häufig anhand der medizinisch, festgelegten Kernsymptome Berufe abgeleitet werden, die pauschal als geeignet bzw. ungeeignet für Menschen mit ADHS eingestuft werden. Dieser Ansatz birgt die Gefahr individuelle Stärken, Interessen und Bedürfnisse zu übersehen.

Herkömmliche Bewerbungsprozesse sind für neurodivergente Personen oft weniger zugänglich und unübersichtlich, da es bezüglich der Erwartungen und Entscheidungsprozesse von Seiten der Arbeitgeber wenig bis keine Transparenz für Bewerber*innen gibt. Auch im Arbeitsalltag ist eine der häufigsten Herausforderungen Transparenz und Klarheit hinsichtlich Rollen, Aufgaben und damit verbundenen Erwartungen der Arbeitgeber bzw. Vorgesetzten. Hinzukommen unterschiedliches Kommunikationsverhalten sowie Belastung durch Reize und sozialen Stress. Neurodivergente Menschen befinden sich häufig auf einem schmalen Grat zwischen Unter- und Überforderung im Job. Aufgaben und Projekte, die ihren Interessen entsprechen bieten viele Vorteile wie Spaß und Begeisterung für die Arbeit. Aber auch die Gefahr Erschöpfung und eigene Belastungsgrenzen nicht wahrzunehmen. Ebenso der Anspruch nach Perfektion und ein hohes Qualitätsbewusstsein machen neurodivergente Menschen zu motivierten und zuverlässigen Mitarbeitenden, können aber auch dazu führen, dass sie sich über ihre Grenzen hinaus verausgaben.

Die Herausforderungen im Umgang mit Arbeitgebern und Teams sind vor allem Vorurteile und Nicht-Wissen auf Seiten der Kolleg*innen und der Arbeitgeber. Viele neurodivergente Menschen werden im Alltag mit Stereotypen und Vorurteilen konfrontiert.

Ein Arbeitsumfeld so zu gestalten, dass die Bedürfnisse neurodivergenter Mitarbeiter*innen berücksichtig werden ist möglich, setzt aber Sensibilität und Bewusstsein auf Seiten der Arbeitsgeber voraus. Das bereits erwähnte Soziale Model von Behinderung besagt, dass eine Behinderung immer auch im sozialen Kontext und in Umwelt zu betrachten ist. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Inklusion im sozialen Kontext und in der Umwelt beginnen muss. Konventionelle Jobinterviews können für Autist*innen eine große Herausforderung sein, ein unübersichtliche Excel Tabelle kann für dyslexische Mitarbeiter*innen schwer zu bearbeiten sein, ein unflexibler und gleichbleibender Aufgabenbereich wiederum kann für ADHSler*innen unpassend sein.

Unternehmen wie SAP und Microsoft haben bewiesen, das Inklusion neurodivergenter Mitarbeiter*innen umsetzbar ist und die Vorteile neurodiverser Teams den Aufwand zur Anpassung des Arbeitsumfeldes aufwiegen.

In den USA hat das US Job Accommodation Network erhoben, dass 59% der häufigsten Anpassungen am Arbeitsplatz für den Arbeitgeber keine zusätzlichen Kosten bedeuten. Ein großer Teil der Anpassung kann über bereits vorhandene bzw. sehr verbreitete technische Ausstattung wie beispielsweise Apps, speech-to-text Software ermöglich werden. Ein sehr viel größerer Anteil der Voraussetzungen für einen inklusiven Arbeitsplatz für neurodivergente Menschen, lässt sich durch Arbeitsorganisation, Kommunikation, Verständnis und Arbeitsbedingungen ermöglichen.

Wie schaffen wir inklusive Arbeitsbedingungen?

Grundsätzlich gilt: neurodivergente Menschen sind verschieden. Egal ob Autist*in, ADHSler*in oder Dyslexiker*in, die Bedürfnisse zweier neurodivergenter Menschen werden nie vollkommen übereinstimmen, genauso wenig wie ihr Selbstverständnis und ihre Sicht auf Neurodiversität.

Aneignung von Wissen und die Reflektion eigener Vorstellungen und Stereotype sind eine wichtige Grundlage, um gesunde Arbeitsbedingungen für alle zu schaffen. Neben aktueller Fachliteratur bieten Verbände, Beratungsstellen und Bildungsträger, die auf Neurodiversität spezialisiert sind Informationen und Schulungen für Arbeitgeber an.

Das die Anpassung des Arbeitsumfeldes eine bewusste Entscheidung ist, soll an dieser Stelle noch einmal wiederholt werden. Wenn Arbeitgeber und Teams diese Entscheidung bewusst treffen, so bedeutet dies, dass es eine Bereitschaft zu Veränderung gibt. Bestehende Strukturen und Glaubenssätze können überdacht werden, Abläufe und Strukturen neu betrachtet werden. Die Haltung des Unternehmens, der Teams und der einzelnen Mitarbeiter*innen ist unabdingbar für eine gelingende Inklusion. Dies mag sich sehr bekannt anhören, ist in der Praxis jedoch häufig das am schwersten umzusetzenden Element, weil es auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen und Werten braucht um eine Haltung zu verändern.

Was bedeutet das nun für den ganzen konkreten Alltag? Und was können Arbeitgeber, Vorgesetzte und Kolleg*innen tun?

Im Arbeitsalltag ist es für viele neurodivergente Menschen hilfreich feste Ansprechpersonen zu haben, klare Anweisungen zu erhalten und zu wissen welche Erwartungen an sie gestellt werden. Eine gewisse Flexibilität zur Anpassung der Tätigkeit an die individuellen Bedürfnisse ist ebenfalls oft hilfreich. Um das zu ermöglichen ist es sinnvoll mit der neurodivergenten Person in einen wertschätzenden Austausch über individuelle Bedürfnisse und Arbeitsstrategien zu gehen. Welche Stärken und Kompensationsstrategien hilfreich sind ist, sehr verschieden und kann entscheidend zum Erfolg im Beruf beitragen. Es ist daher wichtig neurodivergenten Menschen Möglichkeiten zu geben ihre Stärken und Kompensationsstrategien im Arbeitsalltag nutzen zu können. Am Beispiel der Reizempfindlichkeit kann eine Arbeitsplatzanpassung durch Rückzugsmöglichkeiten, eine reizarme Umgebung oder auch reizhemmende Hilfsmittel wie Noise Cancelling Kopfhörer oder auch eine Sonnenbrille ermöglicht werden. Weitere Anpassungen sind durch Planbarkeit, transparente Strukturen und die Anpassung von Kommunikationswegen möglich. Werden Informationen beispielsweise über verschieden Kanäle (Email, Team Chat, Meetings) vermittelt ist die Gefahr höher, dass Informationen verloren gehen oder es neurodivergenten Menschen noch schwerer fällt, Informationen zu ordnen oder zu priorisieren. Klare Strukturen für Kommunikationswege und feste Zuständigkeiten können hier helfen und die Kommunikation für alle erleichtern.

Konstante Veränderungen in unserer Gesellschaft und Arbeitswelt bieten neben Herausforderung, vor allem die Möglichkeit Platz zu schaffen für neue Denkweisen und Perspektiven. Unsere Gesellschaft ist von je her divers. Bestimmte Bereiche sind jedoch durch Normen und Strukturen nicht für alle Menschen gleichermaßen zugänglich. Diversität bietet deutlich mehr Chancen als Herausforderungen, da letztlich alle von einem wertschätzenden und menschenorientiertem Arbeitsumfeld profitieren können. #verschiedenistnormal

 

About


Foto von Jana © Janina Gallert

Jana Steuer ist Ergotherapeut*in, Diplom Rehabilitationspädagog*in und derzeit in der der Ausbildung zur Coach*in und Mediator*in. Sie ist selbst ADHSler*in und bringt so auch eine Innenperspektive auf das Thema Neurodiversität mit. Seit 2019 ist Jana Steuer bei Diversicon in den Bereichen Kurse, Coaching und E-Learning tätig.