Zwischen Freundschaft, Identität und Belonging

Migrantische Biografien als Ressource

SHARE
by Jocelina Ndimbalan , July 4, 2025
Zwischen Freundschaft, Identität und Belonging

 Header © Alushi Kanaan

Reina-María Nerlich ist zweifache Co-Gründerin in Berlin im Bereich Demokratiebildung und Community Building. Reina lernte ich im letzten Jahr durch unser Collective Action Projekt "Das letzte Puzzlestück" kennen und gewann seitdem einige schöne und inspirierende Einblicke in ihre Arbeit bei duvia e.V. und im anígo SPACE. Weil ich selbst manchmal nicht fassen kann, was für facettenreiche, inspirierende und interessante Menschen ich um mich herum habe (ein Hoch auf die tbd* und UBL Community), wollte ich es jetzt einmal genauer wissen und ein Gespräch, wie wir es sonst im Park oder beim Tee in der Küche führen würden, mit der Welt teilen. 
Entstanden ist ein Gespräch über Co-Gründung, wertschätzende und diskriminierungssensible Arbeitskultur, Bildungsarbeit in Berlin, System Schule, Allyship und Identität.
Das Interview ist in drei Teilen veröffentlicht worden.
Viel Spaß mit Teil 2.

Jocelina: Du  arbeitest mit Freund*innen. Was bedeutet eine Co-Gründung in dem Sinne für dich? Du hast gerade ganz viele Vorteile und schöne Seiten daran genannt. Siehst du auch Herausforderungen in Bezug auf deine Co-Gründung?

Reina: Wenn man gemeinschaftlich gründet, gibt es auf jeden Fall Herausforderungen. Aber ich würde vorher nochmal auf das Positive zu sprechen kommen. Das ist zumindest in unserem Fall eine sehr große Vertrauensbasis. Ich weiß einfach, dass das gemeinsam mit denen funktioniert. Zum Beispiel bei der Gründung des anígo SPACEs in diesem Jahr – wir haben uns die Räumlichkeiten gemeinsam angeschaut, die haben gepasst für das, was wir uns in einem Workshop-Raum vorstellen. Dann war irgendwie klar: Wir machen das. Ohne dass wir vorher krass kalkuliert haben, sondern es war ein Urvertrauen, weil ich wusste: Wenn wir das gemeinsam machen, werden wir das irgendwie gemeinsam hinkriegen. Wir werden das stemmen. Das ist etwas, das für mich einen Wert hat, den man gar nicht beschreiben kann. Dann macht es auch gemeinschaftlich mehr Spaß, und man kann unendlich viel voneinander lernen. Wir haben alle unsere Stärken und können uns da sehr gut ergänzen. Das sind einige der unendlich vielen Vorteile. Ich würde es, glaube ich, alleine gar nicht machen. Ich bin auch von meiner Person her so – ich liebe Gemeinschaft, mir ist langweilig alleine. Insofern würde das für mich gar nicht zur Debatte stehen. 

Natürlich geht es auch mit Herausforderungen einher. Es bedarf mehr Absprache, mehr Koordination. Man muss schauen: Wie verteilt man die Rollen, sodass sich alle wohl und gesehen fühlen? Natürlich gibt es Tätigkeiten, die nicht so cool sind, die keinen Spaß machen – wie geht man damit um? Dann gilt es oft, das haben wir bei Duvia gemerkt, wenn es um öffentlichkeitswirksame Sachen geht, herauszufinden: Wer geht jetzt auf die Bühne? Und wenn mehrere sich das vorstellen können – wie stellt man sicher, dass alle damit fein sind?

Wir haben da immer sehr gute Wege gefunden, ich glaube auch durch unser sehr freundschaftliches Verhältnis. Aber ich kann mir vorstellen, dass das für Teams, die sich vorher noch nicht so gut kennen, eine große Herausforderung sein kann. Dass es nicht um Eifersucht oder so geht. Wir sind alle auch noch freiberuflich tätig und wir werfen uns die Bälle eher zu. Aber das kann natürlich auch zu Konflikten führen. Im Arbeitsalltag kommt es zu Konflikten – wegen Stress oder weil man einen schlechten Tag hat. Diese dann so auszutragen, dass die Freundschaft nicht gefährdet ist und gleichzeitig das Arbeiten weiter funktioniert, braucht eine gute, wertschätzende Kommunikation.

Ich glaube, wenn man beruflich so viel gemeinsam macht und dann noch privat befreundet ist, verschwimmen die Arbeitsbereiche extrem. Uns fällt es zum Beispiel manchmal schwer, auch mal nicht zu arbeiten, wenn wir abends essen gehen, zu sagen: „Heute geht’s weder um duvia e.V. noch um den anígo SPACE, heute geht’s um uns.“ Und dann merkt man irgendwann im Gespräch: Okay, wir sind schon wieder bei einem der beiden Themen gelandet. Grenzen zu ziehen – das ist auf jeden Fall die größte Herausforderung für uns.

Aber wir gehen alle mit ziemlich viel Leichtigkeit an unsere Arbeit – auch wenn wir mit schweren Themen arbeiten und auch wenn dieser Bereich alles andere als leicht ist. Wir haben Bock auf das, was wir machen und Spaß daran. Wir haben Lust, miteinander zu arbeiten und zu sein.

Und dadurch versuchen wir auch, viel Raum für Quatsch miteinander zu lassen und uns nicht die Leichtigkeit nehmen zu lassen. Wir lachen viel, wir sind laut miteinander – das macht es leicht. Ich finde nicht, dass das bisher eine große Herausforderung war. Ich würde mit denen auch noch das Dritte gründen.

Ihr seid eine Gruppe von Menschen, die zusammenarbeiten und gegründet haben – ihr seid ein Team aus mehrheitlich BIPoC bzw. habt migrantische Biografien.

Übrigens: "BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) ist eine Selbstbezeichnung von und für Menschen mit Rassismuserfahrungen [...]". - Definition Glossar Neue deutsche Medienmacher. 

Ich finde es total schön, das zu sehen und denke mir: Ey, sowas muss präsenter sein, das muss mehr gesehen werden. Ihr bringt ganz eigene Erfahrungen und Lebenswege mit. Was bedeutet das für dich?

Dass wir so viele BIPoCs sind, ist alles andere als zufällig. Es ist für alle von uns ein Raum, in dem wir uns mal nicht erklären müssen.

Ich habe den schon immer sehr geschätzt, aber gerade im aktuellen gesellschaftspolitischen Klima bin ich unendlich dankbar, mit duvia e.V. und dem anígo SPACE Räume zu haben, in denen ich sicher bin, in denen ich mir keine Sorgen machen muss.

Ich weiß, dass so viele BIPoCs täglich in ihre Lohnarbeit gehen und nicht wissen, wie ihre Kolleginnen zu Rassismus, Diskriminierung, Menschenrechten stehen – und nicht sicher sein können, dass da nicht ein rassistischer, diskriminierender, verletzender Spruch fällt. Ich glaube, das ist der Grund, warum es uns gibt – und warum wir als duvia e.V. auch den Wunsch haben zu wachsen, um mehr Menschen diese Orte zu ermöglichen – Damit Safer Spaces in der Arbeitswelt Realität werden.

Wir haben vorher ein bisschen über Selbstbezeichnungen gesprochen, und du meintest: „Ah stimmt, ich will mir darüber nochmal Gedanken machen.“ Du hast also auch deine ganz eigene Auseinandersetzung mit Identität und Herkunft. Kannst du uns ein wenig über deinen Weg hierher erzählen? 

Ich bin in Sachsen-Anhalt aufgewachsen, in Halle an der Saale. Ich bin unendlich behütet aufgewachsen, durch meine Mama und meine Oma. Mein Papa ist aus Kolumbien und ich habe nie mit ihm gelebt. Er ist auch der Einzige in seiner Familie, der nach Deutschland gekommen ist. Es war auch nicht geplant, dass er bleibt – aber er ist immer noch hier. Ich bin dadurch als einzige nicht-weiße Person in einer weißen Familie aufgewachsen. Ich weiß heute erst, was das bedeutet hat.

Als Kind haben alle versucht, mich durch Fürsorge und sehr viel Aufwand bestmöglich vor Rassismus abzuschirmen. Das hat aber auch bedeutet, dass wir sehr wenig bis gar nicht darüber gesprochen haben. Ich habe eine ganz aktive Erinnerung: Ich war mit meiner Oma in Halle auf dem Marktplatz, und da war eine Theatervorführung. Da war ein Schwarzes Mädchen, ich habe sie weiblich gelesen, die da auf der Bühne stand. Und ich weiß, dass ich gedacht habe: “Boah, krass, die Arme, die ist ja Schwarz.” Und ich habe das null auf mich bezogen. Also, wie krass, dass ich das auf der einen Seite gedacht habe und auf der anderen Seite gar nicht gecheckt habe, dass mich Rassismus ja auch betrifft. 

Ich glaube, ich habe meine eigene Positionierung erst so richtig gefunden, als ich mit 18 nach Berlin gekommen bin. Da war ich im Anthropologiestudium, auch eine recht weiße Bubble, aber da ging es auf einmal ganz viel um Rassismus und Kolonialismus. Da habe ich mehr und mehr gecheckt, okay, das betrifft mich. Erst dann konnte ich im Nachgang ganz viele Erfahrungen, die ich als Kind und Jugendliche gemacht habe, einordnen.

Zu checken, dass das gar nichts mit mir zu tun hat, sondern etwas Strukturelles & Institutionelles war, das war auf der einen Seite schon erschreckend, auf der anderen Seite ist es dem Einsatz und unendlich viel Liebe von meiner Oma und meiner Mama zu verdanken, dass ich als Kind nicht stärker darunter gelitten habe.

Aus heutiger Perspektive würde ich sagen, man muss viel mehr darüber reden, ich würde das heute anders machen. Ich habe aber auch ganz andere Ressourcen, das ist mein Beruf. Für meine Bezugspersonen war das Thema, glaube ich, mit sehr viel Unsicherheit verbunden. Und das war ihr Weg, damit umzugehen.

Gleichzeitig waren die Momente, in denen ich aus heutiger Sicht sagen kann, ich habe als Kind und Jugendliche Rassismus erfahren, eigentlich immer Momente, die sofort mit etwas Bestärkendem einhergingen – durch meine Mama, meine Oma, Freund*innen oder auch Lehrkräfte. Und das ist dem Engagement meiner Familie zu verdanken, dass sie dafür gesorgt haben, dass ich in solchen Kontexten bin. Ich weiß, dass es vielen Kindern nicht so ging, und das weiß ich sehr zu schätzen.

In Berlin war das dann wirklich ein Erwachen. Auf einmal habe ich mich viel damit beschäftigt – so sehr, dass es heute mein Beruf ist. Das hatte für mich etwas sehr Empowerndes, das zu checken: okay, das betrifft mich, darüber lesen zu können, zu sehen, da geht voll viel. In Halle wurde sich damals bei Weitem nicht so viel auf kultureller, wissenschaftlicher und sozialer Ebene mit diesen Themen auseinandergesetzt wie in Berlin vor zwölf Jahren.Ich habe dann ganz viel konsumiert, diskutiert, bin in die Spaces gegangen. Das hatte etwas sehr Bestärkendes. Und dann habe ich einfach nie wieder damit aufgehört.

Das klingt super schön und ich teile deine Erfahrung, aus einer eigenen Betroffenheit ein Interesse für die Themen entwickelt zu haben und daraus dann einen Beruf. Gab es denn spezielle Eckpunkte oder Aha-Momente in deinem Leben, die dich zu deinem Beruf geführt haben? 

Ich glaube, es war ein schleichender Prozess. Und es waren auch immer wieder Personen, die mich inspiriert haben und bei denen ich gedacht habe: boah, cool, wie die sich zu dem Thema auskennen – will ich auch. Dann habe ich angefangen zu lesen, und daraus ist das Nächste entstanden.

Oder bei meinem ersten Job: Als ich mich dort beworben habe, waren im Auswahlverfahren Mary und Isabel dabei, mit denen ich den anígo SPACE und auch duvia e.V. gegründet habe, die ich täglich höre, spreche und die heute meine engsten Freundinnen sind.

Ich weiß noch richtig aktiv, dass ich da saß und gedacht habe: boah, die sind so beeindruckend, denn die sind politisch – aber auf eine Weise, mit der ich mich identifizieren kann. Nicht so dieses: weiße Menschen in Anzug, die in einer Partei organisiert sind – das hätte mich damals gar nicht angesprochen.

Mehr als den Job damals, wollte ich mit ihnen arbeiten und lernen. Es ist super schön und zugleich total absurd, wohin uns das geführt hat.

Es klingt ein bisschen traumhaft und nach einem bestärkendem Band zwischen euch. Gibt es noch andere Dinge, die dich heute in deiner Arbeit bestärken und antreiben – vor allem dann, wenn es mal nicht so easy ist?

Für mich persönlich gibt es gar keine Alternative. Bei allem, was mich an unserer Gesellschaft stört und schief läuft, muss ich das beruflich angehen. Das ist einfach sehr viel Zeit, die man im Beruf verbringt. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte einen Job, der nicht unmittelbar an gesellschaftlichem Wandel oder Antidiskriminierung ansetzt, dann würde mich das Politische noch mehr belasten. Es belastet mich. Manchmal habe ich das Gefühl, es ist ganz schön viel, sich 24/7 mit Rassismus auseinanderzusetzen. Mein Freund sagt mir manchmal: “Willst du vielleicht mal einen Roman lesen, der nichts damit zu tun hat?” Dann fang ich mal an. Meistens klappe ich ihn wieder zu, weil ich es nicht interessant finde. Gleichzeitig ist mein Umgang damit zu wissen, ich arbeite daran. Auch wenn ich mich manchmal machtlos fühle und mich frage, ob das genug ist oder etwas bewirkt, ist es am Ende besser, als nichts zu tun. Ich habe das große Privileg, das zu meinem Job gemacht zu haben. Das gibt mir Antrieb.

Dann natürlich das Feedback – unsere Teamer*innen, die so spannende Menschen sind: Ein diverses Team mit unterschiedlichen professionellen, persönlichen, politischen Hintergründen, Herkünften etc. Es ist so schön, miteinander zu lernen, zu wachsen und ins Gespräch zu gehen. 

Manchmal habe ich das Gefühl, wir schaffen uns in einem kleinen Rahmen das, wie ich mir Gesellschaft wünsche. Ich hoffe, das wirkt nach außen. Das gibt mir Kraft.

Und dann sind da noch die Schüler*innen. Wir arbeiten viel in Schulen. Ich habe auch vier Jahre als Lehrkraft gearbeitet. Bei allem Engagement der Menschen im System läuft im Bildungssystem unendlich viel schief. Es ist nichts Individuelles, sondern etwas Strukturelles. Ich glaube, dass viele betroffene Personen darunter leiden. Ich habe aber die Schüler*innen im Blick. Wenn sie nach einem Workshop sagen: “Endlich war mal was Thema, was mich angeht” – dann heißt das nicht, dass Lehrkräfte das nicht auch wollen, sondern oft nicht können – wegen Lehrplänen usw.

Mir  zeigt das, wir konnten auf individueller Ebene einen Unterschied machen. Wir konnten einen Empowermentraum öffnen.

Beispielsweise hat uns vor kurzem eine Schülerin nach einem Workshop geschrieben: “Ich muss jetzt was tun, könnt ihr mir Organisationen schicken, in denen ich mich als Schülerin gegen Rassismus engagieren kann?” Wir dachten uns: Wow, wie cool – unbedingt! Dann fing ich an zu suchen und merkte: Das ist gar nicht so einfach. Das ist eigentlich krass.

Das führt bei uns dazu, dass wir den nächsten Traum entwickeln: ein Projekt, in dem Schüler*innen eigene Projekte starten. Ich glaube, es sind diese Rückmeldungen – wenn Menschen diesen bestärkenden Moment haben von: “Es könnte ganz anders sein oder ich fühle mich hier gesehen.”

➔ Hier geht es nächste Woche zu Teil 3...

Hier findest du Teil 1"Wo Bildungsarbeit Heimat findet - Demokratiebildung neu denken".

Reina-María Nehrlich im Interview. duvia e.V. anígo SPACE
Portrait © Sophia Carrara

Reina-María Nerlich (sie/ihr) ist Expertin für Demokratiebildung und Antidiskriminierung. Sie war als Lehrerin tätig und studierte u.a. Bildungswissenschaften.
Als Mitgründerin von duvia e.V. begleitet sie Schulen und Organisationen dabei, diversitätssensibel und rassismuskritisch zu arbeiten. 
Mit dem anígo SPACE in Berlin haben sie und ihre Kolleg*innen einen solidarischen Workshop & Community-Raum geschaffen, der Empowerment sichtbar und erlebbar macht. Der anígo SPACE kann für eigene Veranstaltungen gebucht werden. 
Mehr Infos und Kontakt: www.duvia.de | www.anigospace.de