Was bedeutet Stress und wie macht er sich bemerkbar?  

Was passiert eigentlich in deinem Körper, wenn du Stress empfindest?

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von Soraida Velazquez Reve, January 17, 2024
Was bedeutet Stress

In diesem Format bekommst Du einen grundlegenden Hintergrund zu psychologischen Phänomenen und hast die Möglichkeit mit Hilfe von Fragen und Übungen Dich selbst kennenzulernen und auszuprobieren. Dabei können die Fragen Dir behilflich sein, ganz eigene, neue Antworten zu finden. Du kannst die Fragen auch gern anderen Personen stellen, um deren Antworten mit Deinem Selbst-Verständnis zu vergleichen. Die Übungen sind Anregungen, um etwas Neues auszuprobieren. Sehe sie eher wie ein Experiment oder eine Entdeckungsreise als eine Akutlösung oder DAS Rezept. Denn das eine Rezept gibt es bei so viel Vielfältigkeit sowie so nicht. 

Einige Themen können Dich dabei mehr, andere weniger ansprechen. Schau für Dich immer wieder, was zu dem Moment, zu Dir und Deinen Ressourcen passt und traue Dich, Dinge einmal anders zu machen.

(Stress- Teil 1) 

Da „Stress“ ein sehr weit verbreitetes und relevantes Thema privat und beruflich ist, wird dieses in verschiedenen Artikeln behandelt: 1. Grundlagen, 2. Stressbewältigung, 3. Stresszyklus beenden (nach E. und A. Nagoski). Dieser Artikel konzentriert sich auf den ersten Teil, das Verständnis der Stress-Grundlagen.

Was ist Stress?

„Stress“ meint die Stressreaktion unseres Körpers auf Belastungen jeglicher Art (z.B. Arbeitsdruck, Beziehungsprobleme, Diskriminierungserfahrungen, Selbstkritik, Perfektionismus). Dabei ist die Stressreaktion an sich eine Art physiologische und neurologische Liebeserklärung des Organismus an Dich im Umgang mit diesen Belastungen, denn ihre Funktion ist die Bewältigung der wahrgenommenen Gefahren. 

Nach Lazarus (Transaktionales Stressmodell ) muss zunächst ein Reiz der Umgebung durch den Wahrnehmungsfilter einer Person laufen, um als positiv, irrelevant oder gefährlich (z.B. als Bedrohung, Verlust oder Herausforderung) wahrgenommen zu werden (=primäre Bewertung). Im nächsten Bewertungsschritt werden, falls der Reiz als gefährlich wahrgenommen wurde, die verfügbaren Ressourcen eingeschätzt, also die Möglichkeiten mit der potenziellen Bedrohung umzugehen, diese zu bewältigen. Diese können entweder als ausreichend oder als mangelnd wahrgenommen werden. Laut Lazarus wird unsere Stressreaktion dann ausgelöst, wenn wir den wahrgenommenen Reiz nicht nur als gefährlich, sondern auch unsere Ressourcen als mangelhaft einschätzen. 

Auf physiologischer Ebene bedeutet das, dass unsere evolutionäre Anpassungsreaktion aktiviert wird: 

  • Der Sympathikus, der allgemein für unsere Anspannung und Aktivierung zuständig ist, führt zur Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin. Dadurch werden unsere Sinne für fokussierend geschärft und Energie freigesetzt.
  • Kortisol steigt, um dich zusätzlich zu aktivieren.
  • Endorphine (gern „körpereigene Glückshormone” genannt) werden ausgeschüttet und wirken schmerzhemmend. 
  • Auch die angespannte Muskulatur führt dazu, dass unsere Schmerzempfindlichkeit abnimmt.
  • Das Herz ist ebenfalls beteiligt und schlägt schneller, sodass sich der Blutdruck erhöht und mehr Sauerstoff zur Verfügung gestellt wird für die Bewältigung des gefährlichen Reizes (z.B. für Kampf oder Flucht)
  • Andere Organsysteme treten in ihrer Aktivität zurück, um die bestmögliche Leistungsfähigkeit zu ermöglichen. Dazu gehören die Immunfunktion, die Fortpflanzungsfunktion, die Verdauung und die Reparatur von Gewebe.

Durch diese körperlichen Veränderungen versucht unser Organismus uns bestmöglich für den Umgang mit dem Stressor zu wappnen. Klassisch wird von drei möglichen Umgangsformen gesprochen: Kampf, Flucht oder Erstarren. Je nach Stressor kann die eine oder andere Umgangsform angebrachter sein und zur Bewältigung führen. 

Wenn die Stressreaktion so nützlich und hilfreich ist, warum wird „Stress“ dann oftmals negativ bewertet?

Das liegt daran, dass diese Reaktion nur für kurzfristige Bewältigung von Stressoren gedacht ist und nicht für einen langfristigen, möglicherweise alltäglichen Umgang mit Reizen des Alltags. Denn allein ein Blick auf das, was auf physiologischer Seite geschieht, lässt bereits erahnen, was eine ständige Aktivierung der Stressreaktion u.a. bedeutet:

  • Infektanfälligkeit steigt (denn die Immunfunktion ist reduziert)
  • Defektes Gewebe (da die Reparatur verlangsamt ist - oft wird das an Haut und Haar sichtbar)
  • Magen-Darm-Beschwerden (durch die reduzierte Verdauungsaktivität) 
  • Verspannte Muskulatur (der vorherige Schutz vor Schmerzempfindlichkeit führt bei Dauerstress zu starken Schmerzen)
  • Diabetes kann sich durch das ständige Ausschütten von Cortisol, das zum Anstieg des Blutzuckergehalts führt, ebenfalls leichter entwickeln
  • Auch Sexuelle Funktionsstörungen können im Zuge der ständigen Cortisolausschüttung eintreten.
  • Chronischer Bluthochdruck und Herzerkrankungen 

Zudem kommt es auf psychischer Ebene oftmals bei Dauerstress zu folgenden Symptomen:

  • Konzentrationsschwierigkeiten
  • Angst 
  • Wut, Impulsivität und erhöhte Reizbarkeit
  • Nervosität
  • Erhöhte Anspannung
  • Müdigkeit und Erschöpfung
  • Schlafstörungen

Das bedeutet zusammenfassend, dass die Stressreaktion an sich sehr hilfreich und nützlich ist, jedoch ein langfristiges Leben im Modus der Stressreaktion schädlich und gesundheitsgefährdend ist. Daher ist es wünschenswert, diesen Modus bewusst zu verlassen und zu unterbrechen, sodass ein Ausgleich der Aktivierung des Sympathikus und Parasympathikus (Gegenspieler des Sympathikus und für die Entspannung zuständig) geschehen kann.

Beobachte Dich gern zunächst, um zu schauen, was Du als Stressoren wahrnimmst und wie Dein Körper auf diese reagiert. Du kannst gern die folgenden Fragen und Übungen als Anregung nutzen.

Fragen zur Selbstreflexion

  • Welche Veränderungen an meinem Körper fallen mir als erstes auf, wenn Du mit Belastungen zu tun hast (z.B. Rückenschmerzen, Erschöpfung, erhöhte Müdigkeit spröde Nägel, Hautunreinheiten, Verdauungsprobleme, Libidoverlust…)?
  • Welche Veränderungen in meiner Stimmung und in meinem Umgang mit anderen fallen mir als erstes auf, wenn ich mit Belastungen zu tun habe (z.B. erhöhte Gereiztheit, verstärktes Weinen, sozialer Rückzug, Grübeln, Rastlosigkeit…)?
  • Wann waren meine letzten fünf stressfreien Phasen?
  • Wie lange waren diese stressfreien Phasen?
  • Wie sieht das Verhältnis zwischen stressfreien und stressigen Phasen bei mir aus?
  • Welche Bereiche meines Lebens sind für mich belastend, welche sind für mich entlastend?
  • Falls ich in Stresssituationen zu Hilfsmitteln wie z.B. Beruhigungsmitteln greife, was ist meine Vermutung, was passiert, wenn ich diese nicht zur Verfügung hätte? 
  • Welche Ereignisse dieser Bereiche sind alltäglich relevant, welche treten nur sporadisch auf?
  • Dürfen für mich diese Bereiche stressfrei(er) sein? Wie würde das für mich aussehen?
  • Erlebe ich meinen Alltag als stressig und belastend?
  • Falls ja, was motiviere oder bringe ich mich dazu, diesen Lebensstil beizubehalten?
  • Was wärst ich bereit, für meine Gesundheit und langfristige Stabilität zu verändern und zu investieren?
  • Wenn mein Organismus eine Person wäre, wie würde ich das bisherige Engagement im Bezug auf den Umgang mit Stressoren seit meiner Geburt würdigen?

Entdecken und Experimentieren

Bei diesen Entdeckungsübungen geht es diesmal darum, für Dich ein Gefühl zu bekommen, in welchem Maße die Stressreaktion in Deinem privaten und beruflichen  Alltag vorhanden ist und wie diese sich bemerkbar macht. Erst im nächsten Teil (Teil 2- Stressbewältigung) soll es um Formen des Umgangs mit Stressoren gehen. 

  1. Bodyscan

Bodyscans können zur Entspannung genutzt werden, oder auch einfach zur Kontaktaufnahme mit Dir selbst. An dieser Stelle sei die Übung vor allem zur eigenen Überprüfung des Ist-Zustands empfohlen. 

Nehme Dir dafür (gern am Ende des Tages) 15 bis 45 Minuten Zeit. Du kannst die Übung liegend oder sitzend ausführen. 

Nimm einmal Deine Füße wahr. Den Kontakt zur Auflagefläche, die Fußsohlen, die Zehen. Was nimmst Du wahr? Wie fühlen diese sich an? (weich, hart, warm, kalt…). Spüre dann in Deine Unterschenkel, Dein Schienbein und Deine Waden. Auch da kannst Du die Wahrnehmungen für Dich erfassen. Wandere so Stück für Stück jede Partie Deines Körpers entlang und nimm Kontakt zu ihnen auf, bis hin zum Gesicht mit allen Bestandteilen und zur Kopfhaut. Nimm Entspannung und Anspannung in den Körperpartien wahr. Vibrierst Du am Ende des Tages noch nach? Wie leicht fällt es Dir, Dich dem Körper zu widmen? Wie viele verspannte Partien gibt es, wie viele entspannte Partien? 

Wenn Du die Übung für Dich regelmäßig machst, hast Du die Möglichkeit immer wieder mit Dir selbst einzuchecken. 

  1. Tagebuch

Eine Methode, die in der Verhaltenstherapie immer wieder Anwendung findet, sind Tagebücher. Ganz egal, ob es um das Festhalten der Essgewohnheiten oder der Stimmung geht, werden Tagebücher gern genutzt. Denn das Führen eines Tagebuchs über ein bestimmtes Thema kann dabei behilflich sein, eine realistische Einschätzung der Situation zu ermöglichen, statt auf eine vage Ahnung zurückzugreifen. Dabei kann die Tagebuchgestaltung unterschiedlich aussehen. Hier ein Vorschlag: 

Beobachte Dich selbst über einen Zeitraum von 14-30 Tagen. Der Vorteil bei einem Zeitfenster von 30 Tagen und länger ist, dass Du neben dem Umfang der Informationen auch zyklische Erscheinungen berücksichtigen kannst (z.B. Unterschied zwischen verschiedenen menstruellen Phasen, Unterschied zu verschiedenen Zeitpunkten im Wochen- oder Monatsverlauf u.a. wegen verfügbaren Ressourcen wie Energie oder Finanzen).

Hilfreich dabei ist es, den Tag in drei Phasen einzuteilen (morgens, mittags, abends). Trage Tag für Tag ein, was Du getan hast und als wie belastend (Skala von 0-5; grün-gelb-rot…) Du diese Aktivitäten empfunden hast. Du kannst zudem auch aufschreiben, ob es körperliche oder emotionale Auffälligkeiten wie z.B. Verdauungsprobleme und Stimmungsschwankungen gab. 

Nach dem Zeitraum kannst Du Dir einen Überblick verschaffen und möglicherweise besser einschätzen, was für Dich Stressoren sind, wie Du auf diese reagierst, sowie welche Ressourcen Du im Umgang mit ihnen hast.

Hilfreich kann es zudem sein, wenn Du neben den sichtbaren Aktivitäten auch Raum für unsichtbare Aktivitäten schaffst, dazu gehören z.B. innere Prozesse (Gedanken, Grübeln, Selbstzweifel) und Carearbeit. 

  1. Ampel der Belastung 

Diese Ampel nutze ich immer wieder in Therapien bei Personen, die ein besseres Gefühl und im Weiteren einen besseren Umgang mit Stressoren entwickeln möchten. Bisher habe ich viele positive Rückmeldungen erhalten. Ein Vorteil dieser Übung ist, dass sie eine gute Veranschaulichung dessen ist, wie belastet wir sind und dadurch im sozialen Gefüge auch die Kommunikation darüber in Teams und Familien erleichtert. Auch Kinder können sich selbst unter Anleitung eine solche Ampel erstellen.

Hier zunächst der erste Schritt zu der Ampel. Der nächste Schritt folgt im Teil 2 (Stressbewältigung).

Nimm Dir ein Din A4 Blatt und unterteile dieses in 4 Abschnitte (4 Spalten).

Auf der linken Seite des Papiers kannst Du Dir jeweils einen Kreis zeichnen, den Du wie eine Ampel (oben rot, mittig orange, unten grün) ausmalst. Lasse genug Platz, sodass neben der Ampel Raum ist für 3 verschiedene Spalten. 

In die erste Spalte trägst Du für Dich ein, wie Du Dich fühlst, wenn Du entspannt bist (grün), moderat unter Stress bist (orange) oder sehr unter Stress bist (rot). In die nächste Spalte trägst Du ein, welche Gedanken du in den jeweiligen Zuständen hast. In die Dritte, welche körperlichen Symptome je nach Stressintensität sich bei Dir bemerkbar machen. Und in die letzte Spalte schreibst Du, wie Du Dich Dir und anderen gegenüber verhältst.

Notiere es zunächst für Dich selbst. Bespreche es dann gern mit Personen, die Dich gut kennen. Vielleicht fällt ihnen noch etwas auf. Beobachte Dich dann selbst (gern mit Hilfe des Tagebuchs) über die nächste Zeit, um ein Gefühl zu bekommen, in welchem Bereich Du Dich befindest (grün-orange-rot) und ob Dir weitere Dinge einfallen, die Du in Deine Übersicht eintragen kannst. 

Viel Spaß beim Entdecken.

 

Soraida Velazquez Reve ist eine psychologische Psychotherapeutin mit verhaltenstherapeutischer Ausrichtung, systemischer Coach und hat viele Jahre im Bereich Tanz und Fitness gearbeitet. Sie arbeitet mir Einzelpersonen und Gruppen im Bereich der Prävention, Akutbehandlung, Nachsorge, sowie Arbeitsgesundheit. 

Sie liebt eine interdisziplinäre und ganzheitliche Perspektive und Arbeitsweise. Wissen und eigene Entwicklung erfahrbar zu machen liegt ihr sehr am Herzen, sodass sie in ihrer Arbeit gern aktive Übungen zum eigenständigen Entdecken und Erleben integriert. Diesen Ansatz lebt sie in ihren Therapien, Coachings, Programmen und Gruppensessions. 

Innere Arbeit ist berührend, herausfordernd und benötigt Ressourcen wie Energie und Zeit. Sie darf jedoch auch die innere Entdeckungsfreude aktivieren, Spaß machen und beleben.