Critical Wellness ist ein Prozess und kein Zustand

In ihrem zweiten Artikel beschreibt Mariela Georg warum Wellness im rassismuskritischen Kontext, nicht nur einfach Wellness, sondern Critical Wellness ist.

Teilen
von Mariela Georg, September 6, 2020
Critical Wellness

Der Weg zu Wellness ist für Menschen mit Diskriminierungserfahrungen nicht leicht. Ähnlich wie Critical Whiteness, kann auch Wellness zu Gefühlen wie Negation von internalisierten Unterdrückungsformen (Abwehr), Scham, Schuld, Ärger führen, bis endlich die Anerkennung und das Gefühl der Befreiung erreicht werden. Der Grund dafür ist, dass wir uns als von Rassismus Betroffene nicht nur auf die Gesellschaftskritik beschränken, sondern auch selbstkritisch denken sollen. Was hat Rassismus mit mir zu tun? Welches rassistische Wissen habe auch ich internalisiert? Wie beeinflussen die unterschiedlichen Formen von Rassismus und Diskriminierung mein Weltbild, Selbstbild und Selbstwertgefühl? Wie beeinflussen sie mein eigenes Denken, Handeln, Bewegen und Fühlen? Internalisierter Rassismus führt nämlich dazu, dass wir uns selbst durch „die Augen der Unterdrücker*innen“ sehen und die „weiße Norm“ als Maßstab setzen.

Hier kannst du Mariela's Auftaktartikel "Critical Wellness – Der Link zwischen politischem Aktivismus und Self-care" lesen.

Bereits Frantz Fanon beschrieb in „Schwarze Haut, weiße Masken“ (1952) wie die Identität der kolonisierten Subjekte stark von den kollektiven Erfahrungen von Rassismus und Kolonisierung geprägt ist (In seinen psychoanalytischen Studien ging es hauptsächlich um Schwarze Menschen). Einerseits seien weiße Menschen bemüht gewesen kolonisierte und versklavte Menschen innerhalb der kolonialen Ordnung klein zu halten. Andererseits sei das Selbstbild von Schwarzen, Indigenen und People of Color geprägt von Minderwertigkeitsgefühlen und dem Versuch der weißen Norm und Lebensstandards nahe zu kommen. Deswegen plädierten postkoloniale Theoretiker*innen wie Fanon für die DEkolonisierung von Geist und Körper, weil die Effekte der Kolonialzeit und der Versklavung noch nachträglich Wunden in unserer Seele und gar in unserem Körper hinterlassen. 32 Jahre nach Fanon schreibt bell hooks in „Sisters oft the Yam“ (1994) immer noch, dass Schwarze Menschen, insbesondere Schwarze Frauen* aufgrund von internalisiertem Rassismus Schwierigkeiten haben sich selbst zu lieben und ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Dies äußere sich z.B. an der mangelnden Akzeptanz der eigenen Haare und Hautfarbe, die als weit weg von der weißen Norm erlebt werden, der Fokussierung auf angebliche Defizite, einen überhöhten Leistungsdruck sowie an einer Haltung sich als Opfer äußerer Umstände zu sehen. 

In psychologischen Termini würde ich sagen, dass internalisierter Rassismus sich u.a. in dysfunktionalen Gedanken bzw. Glaubenssätzen äußert. Glaubenssätzen, die auf internalisiertem Rassismus beruhen, prägen stark unsere Identität und können uns daran hindern, unsere Ziele zu erreichen oder uns als die Person zu sehen und zu lieben, die wir tatsächlich sind. Glaubenssätze sind erlernt und prägen uns seit der jüngsten Kindheit. Ähnlich wie rassistisches Wissen, erlernen wir Glaubenssätze aus Rückmeldungen unserer Umwelt, medialen Diskursen, vorhandenen Stereotypen und Vorurteilen, Erziehung, Bildung, Familie, Freunden, eigenen Erfahrungen, usw. Typische Glaubenssätze in diesem Zusammenhang könnten sein:

„Ich muss in ständiger Kampfhaltung sein, sonst gehe ich unter“, „Egal wie viel ich mich bemühe, ich schaffe es nicht“, „Ich darf keine Fehler machen“, „Ich darf niemanden enttäuschen“, „Ich muss es allen beweisen“, „Ich muss so Deutsch wirken wie möglich, um akzeptiert zu werden“, „Ich darf bloß nicht negativ auffallen“, „Ich muss freundlich und entspannt wirken“, „Ich darf meine Meinung über Rassismus nicht öffentlich äußern“, „Schwarzsein ist nicht schön“, „Krause Haare sind hässlich“, „mein Körper ist nicht gut genug“, „etwas stimmt nicht mit meinem Aussehen“, usw.

Nach bell hooks (1994) können wir den Weg zur Selbstheilung (self-recovery) nur gehen, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind. Wenn wir uns also diese Art von negativen Gedanken eingestehen und verstehen lernen, wie sehr sie viele Bereiche unseres Lebens beeinflussen. Wir müssen lernen internalisierten Rassismus zu verlernen. In „Sisters of the Yam“ geht sie auf sehr viele Bereiche ein, die von unseren negativen Gedanken beeinflusst werden: von der Selbst-Akzeptanz, über den Körper, Psyche, über die Arbeit, die wir verrichten bis hin zur Community Care, Umgang unter BIPoC, Liebe, Erotik, Spiritualität und Trauer. Außerdem beschreibt sie im Buch Strategien, die sie und ihre Selbsthilfegruppen genutzt haben, um Selbstheilung zu erreichen, z.B. eine bewusste Körperpflege, sportliche Betätigung, ausgewogene Ernährung, Meditation, Spiritualität, Stressmanagement, Verzeihung, Community Building, das Verrichten einer Arbeit, die einem gut tut und bewusster Genuss. All dies sind Strategien, die bell hooks unter Wellness versteht. Es tut mir also in der Seele weh, wenn Wellness alltagssprachlich und auch unter rassismuskritischen Feministinnen* in den sozialen Medien auf einen Spa-day, eine Massage oder auf einen Friseur-Termin reduziert wird. Zum besseren Verständnis hilft es vielleicht, das vollständige Zitat von bell hooks (1994) zu lesen und in Kontext zu setzen:

Living as we do in a white-supremacist capitalist patriarchal context that can best exploit us when we lack a firm grounding in self and identity (knowledge of who we are and where we have come from), choosing “wellness” is an act of political resistance. Before many of us can effectively sustain engagement in organized resistance struggle […], we need to undergo a process of self-recovery that can heal individual wounds that may prevent us from functioning fully. (S. 6 ebd.)

Warum Wellness im rassismuskritischen Kontext, nicht nur einfach Wellness, sondern Critical Wellness ist, versteckt sich in diesem Paragrafen. Menschen, wie wir, die täglich Rassismus erfahren, können durchaus Mitgestalter*innen des sozialen und politischen Wandels sein, aber wir sollten nicht vergessen, unsere Wunden zu heilen und an uns selbst zu arbeiten. Nur wer an sich selbst arbeitet ist für politischen Aktivismus und den sozialen Wandel gewappnet, schlussfolgere ich. 

In den letzten zehn Jahren habe ich viele Menschen, insbesondere Frauen* erlebt, die von Rassismus, Sexismus und weiteren Diskriminierungserfahrungen betroffen sind. Ich habe beobachtet, dass viele einen enormen Sinn für Gerechtigkeit haben sowie für Selbstbestimmung und Perfektion. Dies äußert sich darin, dass sie für die Arbeit, für das Ehrenamt, die Aufklärungsarbeit oder für den politischen Aktivismus sehr viel Energie aufwenden. Sie möchten schließlich, dass sich die Gesellschaft zum Positiven wandelt. Leider habe ich aber auch oft beobachtet, dass genau diese Frauen* Kandidatinnen* für Überarbeitung, chronischen Stress, Erschöpfung und Burn-out sind. Auch mich haben diese Erfahrungen bis zum Limit geführt. Der Grund liegt meiner Meinung nach darin, dass eine Dysbalance gelebt wird zwischen Community-care und Self-care. Meine Beobachtung stimmt mit den Beobachtungen überein, die bell hooks (1994) beschreibt. Und auch bell hooks litt unter Überarbeitung, Suizidgedanken, Depression und Erschöpfung. Vor lauter Aktivismus und Engagement laufen wir die Gefahr, dass unser Körper und unsere Psyche auf der Strecke bleiben. Auch hier ist also Wellness kritisch und politisch. Auf Dauer können nur Menschen, die eine Balance zwischen Self-care und Community-care schaffen, gesellschaftspolitisch aktiv sein und bleiben. In bell hooks‘ (1996: 145) Worten: „None of us can create successful revolutionary movements for social change if we begin from the standpoint of woundedness. […] Addressing our individual and collective suffering, we will find ways to heal and recover that can be sustained, that can endure from generation to generation”. In Killing Rage schreibt hooks (1996: 145), dass wir dringend ein kollektives Bewusstsein für die Wichtigkeit psychischer Gesundheit benötigen sowie Strategien des Empowerments „that break with the colonizing mentality that promotes mental illness“. Diese Empowerment-Strategie möchte ich Critical Wellness nennen.

Eine Instagram-Followerin schrieb mir in Bezug auf mein Wellness-Verständnis: „Aber Mariela ich verstehe nicht ganz, warum von mir auch noch erwartet wird, dass ich widerstandsfähig bin. Ist es nicht die weiße Dominanzgesellschaft, die sich verändern sollte, damit ich nicht mehr täglich Rassismus erfahren muss und es mir besser geht?“. Ich finde beides notwendig und möglich. Auf der einen Seite müssen Rassismus und weitere Diskriminierungsformen gesamtgesellschaftlich bearbeitet und verlernt werden, so dass wir den sozialen Wandel anregen. Auf der anderen Seite kann ich nicht erst darauf warten, dass der soziale Wandel vollzogen wird, damit es mir psychisch, körperlich und seelisch gut geht. Sozialer Wandel und „choosing wellness“ sollten meiner Meinung nach Hand in Hand gehen. Ich würde mir allerdings wünschen, dass den psychischen und körperlichen Folgen von Rassismus in Deutschland mehr Wichtigkeit zugemessen wird. Derzeit kursieren Petitionen, um Rassismuskritik und Kolonialgeschichte im Schulcurriculum zu verankern. Auch Gesundheitsförderung sollte ernster Bestandteil des Schulcurriculums werden. Außerdem gibt es in Deutschland keine Studien zum direkten Zusammenhang zwischen Rassismus und Psyche (siehe Yeboah 2017) und dabei wirkt sich die psychische Verfasstheit bekanntermaßen auf jegliche Aspekte unseres Lebens von der Bildung, über die Arbeit bis zur Familie und der gesellschaftlichen Partizipation. Wenn der Staat sich also Rassismus ernst nimmt, dann darf Rassismus im Bereich der psychischen und körperlichen Gesundheit nicht dethematisiert werden. Eine andere Instagram-Followerin schrieb mir eine wichtige Ergänzung: „Critical Wellness ist auch für Betroffene, die sich noch gar nicht auf Aktivismus einlassen können, ein guter Ansatz. Der wohlwollende Blick auf sich selbst, das Kümmern um sich selbst, um seine* Bedürfnisse und sein* Wohlbefinden gibt einem die Möglichkeit überhaupt Aktivismus in seinem Leben Platz zu geben“. So ist es. Mentale und körperliche Gesundheitsförderung sind ermächtigend. 

Wenn ich Critical Wellness definieren müsste, dann würde ich es folgendermaßen tun:

„Critical Wellness ist ein ganzheitlicher und bewusst ergriffener Weg hin zur Dekolonisierung von Kopf und Körper, um Selbstverwirklichung zu erreichen. Critical Wellness versucht den Spagat zwischen gesellschaftlicher Partizipation bzw. Aktivismus (Community-care) und dem persönlichen Wohlergehen (Self-care) zu vereinbaren, so dass auch marginalisierte Menschen den sozialen Wandel mitgestalten. Critical Wellness ist ein Prozess und kein Zustand.“

Viele Personen fragen mich, warum ich das Wort „Critical“ dem Wort „Wellness“ voranstelle. Ich hoffe, mit diesen beiden Beiträgen die Antwort auf diese Frage gegeben zu haben.

Deswegen ist Wellness kritisch.

Deswegen ist Wellness politisch.

Deswegen ist Wellness widerständig.

Deswegen ist Wellness ganzheitlich.

Deswegen ist Wellness ermächtigend.

Deswegen ist Wellness notwendig.

Deswegen ist es Critical Wellness.

Über Mariela


Mariela beim Training © Mariela Georg

Mariela Georg hat Psychologie B.Sc. und Human Resources M.A. studiert. Sie lebt seit 2007 (wieder) in Deutschland und arbeitet seit 2010 ehrenamtlich, seit 2014 hauptberuflich in der Antidiskriminierungsarbeit. Sie ist außerdem ausgebildete Mediatorin, Stresscoach und Fitness-Trainerin und hat Ende 2019 www.empower-mental.de gegründet. Mit ihren Workshops möchte Mariela BiPoC darin unterstützen, einerseits eine macht- und diskriminierungskritische Haltung einzunehmen und andererseits befähigt zu sein, auf die eigene körperliche und psychische Gesundheit zu achten. #criticalwellness eben. Ihr Traum ist es, bundesweite Critical Wellness Konferenzen und Retreats durchzuführen. Wichtiger findet sie es jedoch, dass die Gesundheitspflege AUCH auf die Bedarfe von BIPoC zugeschnitten, institutionalisiert und strukturell verankert wird.

Instagram: @empower.mental.de 

Webseite: www.empower-mental.de

E-Mail: mariela.georg@empower-mental.de 

to belonging* ist unser nächster Schritt, um das Thema Anti-Diskriminierung neu zu denken und zu handeln. Weg vom Diskurs der Sichtbarkeit von Diversity und Inklusion hin zu einer authentischen und gelebten Zugehörigkeit aller marginalisierten Gruppen. Dies soll zu einem radikalen systemischen Wandel führen im Impact Sektor, von “Macht über” und “Macht für” hin zu “Macht mit”.