Vielfalt im Berufsleben - Ein Interview mit Anas Alhakim

Anas erzählt, welchen Blick er als Person aus Syrien auf inklusive Bildung hat und spricht über die Bedeutung echter Vielfalt am Arbeitsplatz.

SHARE
by Anne Gersdorff, September 19, 2023
Anas Alhakim

Anas Alhakim (32) erzählt im Interview mit Anne Gersdorff, wie er zu seinem Job als Softwareentwickler gekommen ist. Er erläutert, wie seine Leidenschaft für Informatik und seine Fähigkeit zur Lösungsfindung ihm helfen, Barrieren als Rollstuhlfahrer zu überwinden. Anas erzählt, welchen Blick er als Person aus Syrien auf inklusive Bildung hat und spricht über die Bedeutung echter Vielfalt am Arbeitsplatz. Er teilt, wie seine Entschlossenheit und sein positiver Blick auf die Zukunft ihn dazu befähigen, in einer nicht intersektional denkenden Welt zurechtzukommen und wie wichtig dabei Self Care ist.

Anne Gersdorff: Hallo Anas, magst du uns kurz etwas über dich erzählen?

Anas Alhakim: Ich bin 32 Jahre alt und habe kürzlich meine Masterarbeit im Bereich der Medieninformatik mit 1,7 abgeschlossen, worüber ich sehr glücklich bin. Seitdem ich 17 Jahre alt bin, arbeite ich als Programmierer und Entwickler. Nach meinem Abitur 2012 habe ich mich entschieden, einen akademischen Weg einzuschlagen. Zuerst bin ich aber von Syrien nach Deutschland gekommen. Das war Weihnachten 2013, weshalb bei Videocalls im Hintergrund immer ein Weihnachtsbaum zu sehen ist. Mein akademischer Werdegang begann erst im Jahr 2016 so richtig. Zuerst habe ich einen Bachelor in Informatik bzw. Medieninformatik gemacht und dann meinen Master in Medieninformatik. Warum Informatik? Weil ich mich seit meiner Kindheit dafür interessiere – es ist nicht nur eine berufliche Tätigkeit für mich, sondern eine Leidenschaft.

Anne Gersdorff: Was bedeutet Leidenschaft für dich? 

Anas Alhakim: 2005 bis 2007 befand ich mich aufgrund meiner Behinderung in einer Rehabilitationsphase. Alles war anders und ich konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht wie meine Kumpels an den üblichen sportlichen Aktivitäten während der Sommerferien teilnehmen. Zu dieser Zeit hatte mein Bruder die Idee, dass ich mich, aufgrund meiner Affinität zu Computern, mit der Hardware vertraut machen sollte. Es waren meine ersten Berührungspunkte mit der Materie, die sich jedoch nicht so gut anfühlte. Dann schlug er vor, dass ich es mal mit Programmieren versuchen sollte. Ich habe viele Nächte damit verbracht, mich zwischen Webentwicklung und Webdesign hin und her zu bewegen. Ich war unglaublich neugierig und motiviert, um vielleicht meinen ersten Kunden zu gewinnen, den ich dann tatsächlich im Alter von 17 Jahren bekommen habe, etwa sechs Monate nachdem ich angefangen habe. Das war für mich ein neuer Weg hin zu meiner finanziellen Unabhängigkeit, in der ich nicht mehr nur auf das Taschengeld meiner Eltern angewiesen war und mir mein Handy, Bildschirm usw. selbst leisten konnte.

Anne Gersdorff: Welche Herausforderungen hast du erlebt? 

Anas Alhakim: Zunächst einmal bin ich in einem ganz anderen Land, nämlich Syrien, aufgewachsen und dann nach Deutschland gekommen, wo ich erstmal die deutsche Sprache lernen musste. Ich musste auch mein Abiturzeugnis anerkennen lassen, was eine enorme Menge an Aufwand erforderte. Meine ersten drei Jahre in Deutschland war ich nicht krankenversichert, was wiederum bedeutete, dass mein gesundheitlicher Zustand, aufgrund des Mangels an Therapien und medizinischen Untersuchungen, nicht optimal war. Ich war im Überlebensmodus. Zudem benötigte ich im Vergleich zu anderen viel mehr Zeit für mich selbst – mindestens zwei Stunden am Tag für mich, für meinen Körper und meine Pflege. Da ich hier in Deutschland ohne familiäre Unterstützung war, musste ich extrem selbstständig sein und meine Zeit anders einteilen. Natürlich gab es gewisse Unterstützungen von Freundschaften, aber die waren nicht immer verfügbar. So war es für mich immer eine Notwendigkeit, selbstbestimmt und selbstständig zu handeln – nicht nur, weil ich es wollte, sondern weil ich keine andere Option hatte. 

➡️Mehr zu “Crip Time”: 

https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/crip-time

Anne Gersdorff: Wie war die Situation während deines Studiums?

Anas Alhakim: Das Studium war für mich nicht so problematisch. An der Universität hatte ich nicht viele Schwierigkeiten mit dem Stoff, obwohl es eine hohe Leistung und Konzentration erfordert. Diese steht jedoch nicht direkt in Zusammenhang mit meiner Rolle als Rollstuhlfahrer. Die Barrieren, mit denen ich zu kämpfen hatte, unterschieden sich nicht stark von denen, die andere erlebt haben. Immer wenn ich dennoch auf Barrieren gestoßen bin, habe ich das Gespräch mit der Universität gesucht. Es gab einige Barrieren, die nicht zu 100 Prozent beseitigt wurden, aber ich konnte immer einen Weg finden. Manchmal mussten Räume getauscht werden oder Kommiliton*innen haben mir geholfen.

Anne Gersdorff: Wie siehst du die Vielfalt im Bildungssystem?

Anas Alhakim: Ehrlich gesagt, habe ich an der Universität kaum Probleme erlebt, zumindest nicht bei mir persönlich. Zum Beispiel habe ich in Berlin an der Technischen Universität (TU) und auch an der Hochschule für Technik (BHT) studiert. Beide Erfahrungen waren für mich nicht besonders problematisch. Aber mein Hintergrund ist auch etwas anders, da ich immer die Situationen mit denen in Syrien vergleiche. Ich weiß, dass das eigentlich kein angemessener Vergleich ist, denn diese beiden Welten sind nicht direkt vergleichbar. Dennoch war es für mich einfacher, in Deutschland zu improvisieren, weil ich in Syrien immer daran gewöhnt war, dass ich improvisieren musste und ständig nach einfachen Lösungen suchen musste. An der BHT gab es Situationen, in denen zum Beispiel die Knöpfe des Aufzugs zu hoch angebracht waren. Ich habe mir überlegt, wie ich mich strecken oder einen Kugelschreiber verwenden kann, um die Knöpfe zu erreichen. 

Anne Gersdorff: Und was machst du heute?

Anas Alhakim: Es ist viel passiert, seitdem ich Weihnachten 2013 aufgrund der schlechten Barrierefreiheit und der fehlenden Sicherheit wegen des Krieges von Syrien nach Deutschland gekommen bin. Ich habe meine beiden Studiengänge abgeschlossen und wurde vor drei Jahren eingebürgert. Mittlerweile arbeite ich bei Sozialhelden e.V. als Softwareentwickler, hauptsächlich für das Projekt Pfandgeben. Bald auch für die Wheelmap. und ich bin dort auch als Aktivist tätig, hauptsächlich im Bereich der Akademie, wo ich Workshops gebe und berate. Ich bin angekommen. Oft höre ich, dass das Jahr 2023 große Veränderungen für mich gebracht hat. Doch in Wahrheit spiegelt dieses Jahr die Ergebnisse der vergangenen zehn Jahre wider.

Anne Gersdorff: Du bringst eine breite Palette an Erfahrungen und Intersektionalität mit. Wie denkst du, können dir diese Erfahrungen im Berufsleben helfen? Kommen sie dir irgendwie zugute?

Anas Alhakim: Ich habe eine Behinderung, bin Rollstuhlfahrer und habe gleichzeitig einen Migrationshintergrund. Das ermöglicht mir, die beiden Welten zu verstehen. Gleichzeitig arbeite ich als Fachexperte im Bereich Informatik. Dadurch kann ich meine Lebenserfahrung und Expertise in die Informatik einbringen. Ich kann Lösungen für Probleme entwickeln, die sowohl Behinderungen als auch technische Herausforderungen betreffen. Ich erkenne die Bedeutung dieser Komponente in meiner Persönlichkeit an und nutze sie, um mögliche Lösungen zu entwickeln.

Anne Gersdorff: Wie siehst du die Vielfalt in der Arbeitswelt?

Anas Alhakim: Vielfalt auf dem Arbeitsmarkt sollte sich nicht nur auf eine Dimension beschränken. Wenn das der Fall ist, dann finde ich das positiv. Allerdings bin ich dagegen, wenn jemand nur aufgrund eines sogennaten Vielfaltsmerkmals eingestellt wird, ohne dass eine echte Vielfalt und inklusive Arbeitskultur vorhanden sind.

Anne Gersdorff: Wie siehst du die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt? Würdest du sagen, er ist vielfältig?

Anas Alhakim: Wenn ich mich in der Vergangenheit beworben habe, habe ich immer erst geschaut, wie das Unternehmen kulturell aufgestellt ist. Gibt es eine Abteilung für Diversität oder Inklusion? Bin ich dort als Einzelkämpfer unterwegs und muss mich um alles selbst kümmern? Wenn ich sehe, dass ein Unternehmen Gleichberechtigung nur groß schreibt, es aber in der Praxis nicht lebt, dann ist das für mich kein attraktiver Arbeitgeber. In solchen Fällen sortiere ich solche Unternehmen direkt aus. Es gibt Unternehmen, die Diversität zwar unterstützen, aber nicht wirklich darauf vorbereitet sind. Sie sprechen von Vielfalt, aber wenn man sich bewirbt, stellt man fest, dass beispielsweise kein Fahrstuhl vorhanden ist. Ich frage mich dann, wie ein Unternehmen Diversität unterstützen und darüber sprechen kann, während es keine inklusiven Maßnahmen umsetzt. Es gibt also viele Unternehmen, die zwar auf dem Papier für Diversität sind, aber in der Realität nicht inklusiv handeln. Es gibt viele Möglichkeiten, Anpassungen zu beantragen oder Bedarfe anzusprechen, aber wenn das Unternehmen nicht entgegenkommt, lohnt es sich oft nicht. Es fühlt sich an, als wäre man allein in diesem Kampf.

Anne Gersdorff: Das klingt nach einer kritischen Beobachtung.

Anas Alhakim: Das ist meine Wahrnehmung. Ein Grund, warum ich sogar in einer vorherigen Firma schließlich gekündigt habe. Der Fahrstuhl hat sechs Monate lang nicht funktioniert und es gab auch keine barrierefreie Toilette. Ich musste improvisieren und Homeoffice machen, während alle anderen im Büro waren. Ich fühlte mich ausgeschlossen.

Anne Gersdorff: Gibt es Initiativen oder Organisationen, die du als besonders vorbildlich empfindest?

Anas Alhakim: Ja. Auf jeden Fall. In den letzten Jahren gab es viele Unternehmen, die wirklich gut darin sind, inklusive Arbeitsumgebungen zu schaffen. Zum Beispiel die Deutsche Bahn – als ich mich dort beworben habe, hatten sie bereits eine sehr offene Diskussion darüber, was ich benötige, welche Barrieren vorhanden sind und ob es spezielle Anforderungen gibt. Das fand ich wirklich positiv. Auch bei der Bundesdruckerei war es ähnlich. Sie hatten einen Beauftragten für Menschen mit Behinderungen in den Bewerbungsprozess integriert. Das hat mich überrascht, weil ich das nicht erwartet hatte. Ein weiteres Beispiel sind natürlich die Sozialheld*innen, bei denen ich jetzt gelandet bin.

Anne Gersdorff: Das klingt nach einigen positiven Beispielen, die du erlebt hast.

Anas Alhakim: Ja, definitiv. Es ist ermutigend zu sehen, dass es Unternehmen gibt, die sich wirklich bemühen, eine inklusive Arbeitskultur zu schaffen.

Anne Gersdorff: Welchen Rat würdest du anderen Personen geben, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder ähnliche Rahmenbedingungen haben wie du?

Anas Alhakim: Seid mutig, seid offen, seid neugierig und lasst euch von anderen nicht entmutigen, egal was sie sagen. Ihr seid der Sinn eures Lebens in eurer eigenen Realität, und ihr seid nicht hier, um die Erwartungen anderer zu erfüllen. Verfolgt euren eigenen Weg, traut euch und lasst eure Stimme hörbar werden.

Anne Gersdorff: Das kann manchmal ganz schön herausfordernd sein, oder?

Anas Alhakim: Oh ja, ich sage nicht, dass es einfach ist. Es ist ein anspruchsvoller Prozess, aber er lohnt sich wirklich. Wenn ich auf die letzten zehn Jahre zurückschaue, würde ich, obwohl es sehr hart und anstrengend war, mir sagen: Bleib dran, es wird sich am Ende auszahlen.

Anne Gersdorff: Was hast du getan, um dranzubleiben oder was hat dich motiviert?

Anas Alhakim: Ich war hartnäckig und stur. Ich habe in den letzten zehn Jahren viele negative Aussagen gehört. Leute sagten, ich solle meine Entscheidungen überdenken, dass ich es nicht schaffen werde, dass es nicht schön für mich enden wird. Obwohl ich auch Unterstützung und Motivation von anderen erhalten habe, sind die negativen Gedanken oft hängen geblieben. Ich habe mir dann gesagt, dass ich niemanden brauche, der an mich glaubt. Ich muss lernen, an mich selbst zu glauben, unabhängig von anderen. Ich war entschlossen, das zu tun.

➡️Mehr zu internalisiertem Ableismus: https://dieneuenorm.de/podcast/internalisierter-ableismus/

Anne Gersdorff: Hast du bestimmte Dinge getan, die dich motiviert oder wieder aufgebaut haben?

Anas Alhakim: Ja, auf persönlicher Ebene habe ich verschiedene Dinge gemacht. Ich meditiere auf meine Weise, höre Musik und mache Sport. Ich trainiere regelmäßig, mache Krafttraining und gehe schwimmen. Ich probiere gerne Neues aus. Obwohl ich gerne mit anderen Leuten zusammen bin, brauche ich auch Zeit für mich. Es ist wichtig, die Beziehung zu sich selbst zu stärken. Ich habe eine gute Balance gefunden. Wenn ich merke, dass ich abschalten muss, weiß ich, wie ich das tun kann. Die Sorgen haben bei mir nicht viel Platz.

➡️Mehr zu “Disability Burn-Out”: https://raul.de/allgemein/disability-burn-out-internalisierter-ableismu…

Anne Gersdorff: Wie sehen deine Zukunftspläne aus? Was willst du in 10 Jahren tun?

Anas Alhakim: Das ist eine gute Frage. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht genau, wie es in zehn Jahren aussehen wird. Ich gebe mein Bestes im Moment, aber wie es in zehn Jahren sein wird, ist ungewiss. Vielleicht werde ich in die Selbstständigkeit gehen, vielleicht werde ich weiterhin bei den Sozialheld*innen arbeiten. Ich kann es nicht genau sagen. 

 

Anas Alhakim ist Softwareentwickler und Aktivist bei Sozialhelden e.V.. Als Rollstuhlfahrer und mit Migrationshintergrund bringt er seine vielfältige Perspektive in die Arbeit ein. Besonders gern sucht er deshalb nach Lösungen.

---

Mit unserer Belonging Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von LichtBlick den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Unsere Kolumnist*innen für das Jahr 2023 sind die engagierten Aktivist*innen von SOZIALHELDEN e.V. mit dem Themenschwerpunkt Behinderung & Intersektionalität am Arbeitsplatz. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“.“