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SOS-Kinderdorfmutter/ -vater – ein Beruf für Dich?

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von Katharina Ibler, August 10, 2021
SOS-Kinderdorfmutter

ursprünglich erschienen: 03.12.2015

Beruflich etwas Sinnvolles tun, eine andere Form der Arbeit finden – weg vom Schreibtisch und rein ins Leben sozusagen. Viele kennen solche Gedanken. Der Beruf Kinderdorfmutter oder –vater bietet eine Möglichkeit dies zu verwirklichen, insbesondere auch für Quereinsteiger. Einen kleinen Einblick in den Beruf gibt der folgende Artikel, in dem u.a. Birgit Kramm zu Wort kommt - SOS-Kinderdorfmutter in Berlin Moabit und Sprecherin der ca. 100 Kinderdorfmütter- und –väter deutschlandweit. 

Zusammen durch Dick und Dünn - Tag und Nacht

Tag und Nacht mit sechs Kindern zusammenleben, wie ist das? Wie verändert sich dadurch das Leben? „Das habe ich mich damals auch gefragt, als ich durch Zufall erfuhr, dass SOS-Kinderdorf in Berlin ein Kinderdorf aufbaut“, sagt Birgit Kramm. 

Um herauszufinden, ob das etwas für sie sein könnte, machte sie zunächst ein bezahltes Praktikum in einer Kinderdorffamilie, als Voraussetzung für den Einstieg in den Beruf. „Ich habe erfahren, wie es ist, mit Kindern im Familienalltag umzugehen. Wenn die Kinder anfangen, Vertrauen zu entwickeln. Und wie viel Freude dieser Beruf macht.“ Für Birgit Kramm stand damit fest: sie wird Kinderdorfmutter in Berlin.

Die täglichen, kleinen und großen Erfolge sind für sie dabei besonders motivierend. Da ist zum Beispiel ein Kind, das oft abweisend reagiert und sich dann abends beim Vorlesen doch ankuschelt. Da sind die vielen kleinen Entwicklungsschritte, die stolz machen. Mitzuerleben, wenn Kinder plötzlich Ziele entwickeln. „Oftmals sind die Kinder, die zu uns in die Kinderdorffamilien kommen, perspektivlos und wissen nicht, wie es für sie weitergehen soll. Aber sie haben so viele Fähigkeiten, die sich gemeinsam entdecken lassen. Und was mich bis heute immer wieder motiviert, ist diese besondere Form des Miteinanders in einer Kinderdorffamilie, das Vertrauen zueinander, das entsteht.“ 

Um dieser besonderen Form des Miteinanders die Chance zu geben, langsam wachsen zu können, kommen beim Aufbau einer Kinderdorffamilie nicht alle Kinder gleichzeitig in die Familie. “Man lernt sich mehr und mehr kennen, über die Jahre entstehen Bindungen.“ Die ersten Kinderdorfkinder von Birgit Kramm haben vorher in einer Mutter-Kind-Einrichtung gelebt. „Ich habe sie dort häufiger, mit meinem Kollegen Andre Gaatz besucht, um sich gemeinsam langsam anzunähern. Die Kindern waren sehr offen uns gegenüber, das war schön.“

Die Eltern der Kinder, die in deutschen SOS-Kinderdorffamilien untergebracht werden, sind oft aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage, für ihre Kinder zu sorgen. Krankheit, aber auch Alkohol, Arbeitslosigkeit und Schulden spielen eine Rolle. Deshalb wurden die Kinder nicht zur Schule geschickt, verwahrlosten, verbrachten den Tag oft unbeaufsichtigt auf der Straße. Sie müssen erst einmal wieder lernen, im Alltag zurechtzukommen, brauchen normale Alltagsstrukturen. „Das Wichtigste ist aber, dass ich ihnen Verlässlichkeit anbiete. Dass sie mit allem, was sie bewegt, zu mir kommen können. So ein Vertrauen wächst erst über die Jahre. Deshalb ist der Beruf SOS-Kinderdorfmutter oder SOS-Kinderdorfvater auch kein Job, den man nach ein paar Monaten wieder aufhört.“ so Birgit Kramm. 

 

 

 

Freizeit und Urlaub inklusive

Diese Aussage macht bereits deutlich, SOS-Kinderdorfmutter bzw. SOS-Kinderdorfvater ist mehr als „nur“ ein Vollzeitjob – sechs Kinder groß zu ziehen ist überdurchschnittlich viel Arbeit und wird deswegen auch überdurchschnittlich bezahlt. Trotzdem dürfen Auszeiten natürlich nicht fehlen. Deswegen haben SOS-Kinderdorfmütter/-väter Anspruch auf Urlaub und es stehen ihnen pro Woche ein oder zwei Tage Freizeit zu. Dies richtet sich nach den Wünschen der Kinderdorfmütter/-väter, den Bedürfnissen der Kinder und ist im Arbeitsvertrag vereinbart.

Birgit Kramm hat zwei Tage in der Woche frei und verbringt diese meist außerhalb des Kinderdorfes. „Diese Ruhephasen sind wichtig, wenn man sich hundert Prozent einbringt. Die Kinderdorfkinder wissen, wo ich dann bin. Sie kennen auch meine Mutter, meinen Bruder und einen Teil meiner Freunde, die uns öfter besuchen.“ 

Sein Privatleben vollkommen aufzugeben ist also nicht notwendig. Kirsten Spiewack, Leiterin des SOS-Kinderdorfs in Moabit sagt hierzu: „Natürlich, wenn ich mich für Kinder entscheide, ändert sich mein Leben. Aber auch als Kinderdorfmutter oder -vater hat man Freizeit, kann Hobbys nachgehen, Freundinnen und Freunde einladen oder mal alleine in den Urlaub fahren. Das wissen nur zu wenige. Man hat ja ein Team, mit dem man Hand in Hand arbeitet wie in einer gut funktionierenden Familie.“ 

Alles im Team

SOS-Kinderdorfmütter und –väter werden durch pädagogische Fachkräfte, eine Hauswirtschaftskraft und Praktikantinnen bzw. Praktikanten unterstützt. In der Kinderdorffamilie von Birgit Kramm ist u.a. der Erzieher Andre Gaatz von Anfang an dabei, der die Teamarbeit in der Kinderdorffamilie sehr schätzt. „Die Kinder spüren, ob wir uns gut verstehen. Man muss eine gemeinsame Vorstellung davon haben, welche Dinge wichtig sind und wann man konsequent sein muss. Die Kinder brauchen im Alltag Orientierung, einen roten Faden.“ In vielen Kinderdorffamilien arbeiten Frauen und Männer im Team, so können den Kindern verschiedene Rollenmodelle angeboten werden, wie sie in einer modernen Familie gelebt werden.

Die Kinderdorfmutter bzw. der Kinderdorfvater nimmt dabei natürlich eine besondere Rolle ein. Birgit Kramm drückt das so aus: „Ich bin die Mutter, die Freundin, die Vertraute, der man sich mitteilt. Aber ich bekomme auch die Aggressionen der Kinder ab, weil sie auf ihre Eltern wütend sind. Und ich wache über jedes Kind, damit es sich bestmöglich entwickelt.“ 

Das Alltagsleben im Einzelnen gestaltet jede Kinderdorffamilie nach ihren eigenen Vorstellungen. Die Mitarbeiter und auch die Kinder haben hierzu ihre eigenen Ideen und bringen diese ein. Bei Meinungsverschiedenheiten werden gemeinsam Lösungen gesucht. „Wir leben vor, dass man Kompromisse finden kann. Das ist für die Kinder sehr wertvoll.“ so Andre Gaatz.

Rund um die SOS-Kinderdorffamilien gibt es ein weitreichendes Netzwerk an Angeboten, das auch allen Menschen im Umkreis offen steht und Unterstützung anbietet, ob im Familientreffpunkt, im Mehrgenerationenhaus oder der Kindertagesstätte. 

Nicht nur auf dem Land – auch in der Großstadt

Lange gab es SOS-Kinderdörfer vor allem im ländlichen Umfeld, wo das Leben etwas übersichtlicher ist und Strukturen und Umfeld stabil bleiben. Heute gibt es auch Kinderdorffamilien mitten in der Großstadt. Die große Wohnung von Birgit Kramm liegt in einem ruhigen Hinterhof mitten in Moabit, hat eine Terrasse und die Fassade des Gebäudes ist farbenfroh gestaltet. Aus eigener Erfahrung weiß sie „natürlich birgt eine Stadt wie Berlin für Kinder auch Gefahren wie Drogen, Gewalt, Kriminalität und wir müssen wachsam sein. Aber die gibt es heute überall, auch auf dem Land. Die Kinder darauf vorzubereiten, sie starkzumachen für ein Leben in der Gesellschaft, ist ja unsere Aufgabe.“

Und dass es SOS-Kinderdorffamilien heute auch in Großstädten gibt, hat den großen Vorteil, dass Kinder, die ursprünglich aus der Großstadt kommen und nicht mehr bei ihren Eltern leben können, nicht zwingend vollständig von ihrem Umfeld, ihrer Schule und ihrer Familie weggerissen werden müssen. So werden weitere Bindungsabbrüche vermieden. Denn davon haben diese Kinder in der Regel bereits einige hinter sich.

Ein Job mit Ausbildungsperspektive und Sinn

Auch für die eigene Entwicklung bietet der Beruf SOS-Kinderdorfvater oder –mutter Chancen. „Kinderdorffamilien sind ideale Orte, an denen man sich auch selbst weiterentwickeln kann. Das ist das Geschenk, welches die Kinder uns hier machen. Dass sie uns im Zusammenleben und -arbeiten auch als erwachsene Persönlichkeit reifen lassen.“ sagt Agnes Siemer, Bereichsleiterin Kinderdorffamilien im SOS-Kinderdorf Berlin Moabit. 

SOS-Kinderdorfmutter/-vater können nicht nur bereits ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen werden, sondern auch Quereinsteiger, die bereits eine andere abgeschlossene Ausbildung mitbringen. Sie absolvieren die dreijährige Ausbildung zur Erzieherin oder Erzieher berufsbegleitend zur Mitarbeit in einer Kinderdorffamilie und erlernen so auch noch einen modernen Sozialberuf zusätzlich zu Ihrem ursprünglichen Beruf. 

Dieser Artikel wurde durch SOS-Kinderdorf e.V. ermöglicht.