Myscio ermöglicht Geflüchteten die Berufsausbildung

Nur Deutsch zu lernen reicht einfach nicht aus, Fachsprachkenntnisse sind gefordert.

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by Nadia Boegli, March 21, 2017
Myscio-Team

Obwohl Geflüchtete Deutsch lernen, sind fehlende Sprachkenntnisse noch immer der Hauptgrund für den Abbruch der Berufsausbildung. Nur Deutsch zu lernen reicht einfach nicht aus, Fachsprachkenntnisse sind gefordert. Das haben die Gründer von Myscio erkannt und wollen genau dieses Problem angehen. Im Interview erzählt uns Jan Siebert über das Projekt, warum die berufliche Perspektive das A und O ist und wie wir ihre Idee unterstützen können.

Wie ist Myscio entstanden?

Die Idee zu dem Projekt entstand im April letzten Jahres aufgrund eines Zeitungsartikels. In diesem Stand, dass laut Handelskammer München und Oberbayern rund 70% der Geflüchteten, welche eine  Berufsausbildung begonnen, diese bereits wieder abgebrochen hatten. Der Hauptgrund sind fehlende Fachsprachenkenntnisse. Diese 2 Sätze rüttelten mich, der ich gerade in der Endphase meiner Masterarbeit steckte und mich eigentlich auf einen Job in der Entwicklungszusammenarbeit bewerben wollte, wach. Ich dachte mir: Falls sich diese Zahlen langfristig bewahrheiten haben wir in 3-4 Jahren ein riesiges gesellschaftliches Problem.

Ich begann zu recherchieren und stellte fest, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) allgemeine und sogar berufsbezogene Sprachkurse anbietet. Jedoch ist es kaum zu erwarten, dass Geflüchtete nach 1-1,5 Jahren eine Sprache auf Berufsniveau sprechen, welche sich von der deutschen Sprache derart unterscheidet. Als bestes Beispiel dient ein Bekannter aus Syrien. Er hatte laut Sprachkurs das Niveau B2 und konnte sich nahezu perfekt verständigen. Jedoch brach er trotzdem aus Frustration seine Ausbildung nach ca. 4 Monaten ab. Er sagte mir: "Ich habe unfassbare Probleme mit Fachtexten und dem Fachvokabular. Das ist nochmal etwas ganz anderes als sich mit Leuten über Essen oder Fußball zu unterhalten."
Im Laufe des letzten Jahres fand ich Mitstreiter für das Projekt. Gemeinsam entwickelten wir die Ursprungsvision zu einem konkreten Konzept aus und sitzen mittlerweile im Social Impact Lab in Duisburg.

Was war die Motivation dahinter?

Wir wollen nicht länger hinnehmen, dass Sprache eine Barriere zur Erlernung von Fachinhalten ist und dadurch die Zukunft einer ganzen Generation aufs Spiel gesetzt wird. Die überwiegende Merhheit der Geflüchteten sind hungrig und wollen lernen. Machen wir es ihnen doch ein bisschen einfacher.

Unserer Meinung nach ist eine lebenswerte Gesellschaft eine die zuhört und sich mit anderen Kulturen auseinandersetzt und versucht von Ihnen zu lernen. Gerade in der beruflichen Bildung haben wir unser sicherlich erstklassiges duales Ausbildungssystem. Wir müssen jedoch begreifen, dass dieses System nicht für alle Kulturen unserer heutigen Gesellschaft geeignet ist. Wenn wir also diese Menschen respektieren und verstehen wollen, merken wir, dass sich die deutsche Sprache nicht innerhalb eines Jahres auf Berufsniveau erlernen lässt. Mit dem Projekt möchten wir die Geduld fördern Geflüchteten mehr Zeit zu geben sich während ihrer Ausbildung zu entwickeln.
Durch unser Vorhaben wollen wir auch Unternehmen zeigen, dass kulturelle Einflüsse ein Chance darstellen.

Kurzfristig soll unser Projekt Geflüchteten zu mehr Spaß sowie mehr Erfolg in der beruflichen Ausbildung verhelfen. Mit dem Sprachangebot möchten wir auf sie zugehen, ihnen Wertschätzung entgegenzubringen und einen Beitrag dazu zu leisten, um langfristig der Entstehung von Parallelgesellschaften und Radikalisierung entgegenzuwirken.

Ihr ermöglicht Lernmaterialien für Geflüchtete in Berufsschulen, wie kann man sich das vorstellen?

Myscio hat sich das Ziel gesetzt, sprachsensible Lernmaterialen für Geflüchtete in der beruflichen Bildung zu entwickeln. Die Lernsituationen sind multilingual, in einfachem Deutsch sowie perfekt auf die individuellen Bedürfnisse Geflüchteter zugeschnitten, um ihnen einen einfacheren Zugang zum Lernstoff der Berufsausbildungen zu ermöglichen. Durch unsere Materialien erhöhen sich außerdem ihre Chancen auf einen erfolgreicheren Ausbildungsabschluss und letztendlich eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt und unsere Gesellschaft. „Wir wollen Lernmaterialien nicht prinzipiell ersetzen, sondern eine zusätzliche Stütze und Hilfe für die Geflüchteten sein.

Unsere Lernmaterialien sollen Geflüchteten als auch Berufsschullehrern zunächst als haptische Lernhefte und langfristig auch auf einer digitalen Lernplattform zur Verfügung stehen. Die Lehrkräfte erkennen den individuellen Förderbedarf der Geflüchteten und können multilingual aufbereitete und nach inhaltlichem Anforderungsniveau differenzierte Lernsituationen direkt und unkompliziert ihren Schülern zur Verfügung stellen. Geflüchtete können so ihre Aufgaben bearbeiten und gemeinsam mit der Lehrkraft besprechen. So ist eine wesentlich individuellere
Betreuung mit Rücksichtnahme auf die Herkunftssprache der Geflüchteten möglich, ohne mehr Lehrkräfte einzustellen oder den Bildungsetat erhöhen zu müssen. Durch unser neuartiges Konzept bekommen Geflüchtete ein völlig neues Gefühl der Wertschätzung und können ihre Talente und Fähigkeiten besser entwickeln. Hierfür ist die Ausarbeitung eines ersten Prototypen bereits abgeschlossen und soll in naher Zukunft zusammen mit Berufsschulen und privaten Bildungsträgern weiterentwickelt und optimiert werden. Zwei Institutionen aus Köln haben großes Interesse an dem Projekt und möchten es mit uns weiterentwickeln.

Was unterscheidet euch von anderen Projekten, die sich ebenfalls mit Bildung für Geflüchtete befassen?

Die meisten Bildungsprojekte zielen auf Grundschulen sowie die Sekundarstufe I ab. Im Bereich der beruflichen Bildung bieten viele Projekte berufsvorbereitende Maßnahmen an, um diese fit für den Ausbildungsmarkt zu machen. Diese Maßnahmen gehen oft über einen Zeitraum von 6-12 Monaten. Dieser Ansatz ist sicher richtig und sinnvoll. Darüber hinaus gibt es Betreuung durch Ausbildungshelfer während der Ausbildung. Diese Maßnahmen werden jedoch in der Regel durch die Bundesagentur für Arbeit und die darin untergliederten Jobcenter geregelt.

Das Thema Sprachsensibilität findet in der beruflichen Bildung jedoch so gut wie nicht statt. Es gibt beispielsweise Wörterbücher für Mechatroniker auf deutsch und arabisch. Praxisorientierte berufsbezogene Planspiele und Lernsituation auf Deutsch und der Herkunftssprache der Geflüchteten sowie in einfachem deutsch gibt es jedoch nicht. Genau hier wollen wir ansetzen.

Wie würdest du die aktuelle Lage in NRW beschreiben?

Es gibt viele Flüchtlingsinitiativen, jedoch sind diese oft nicht gut miteinander vernetzt. Das ganze ähnelt einem Flickenteppich. Darüber hinaus stellen wir fest, dass die große Euphoriewelle aus dem Jahr 2015 der Vergangenheit angehört. Kamen zu Treffen von Willkommensinitiativen anfangs noch hunderte von Leuten, sind es heute oft nur noch eine Hand voll. Es ist natürlich super, wenn damals Menschen Geflüchtete zum Essen einluden und sich mit ihnen austauschten. Gerade jetzt jedoch, da nicht mehr alles rosarot ist, dürfen wir nicht resignierend aufgeben, sondern müssen uns weiter engagieren. Integration ist ein langer langer Prozess. Dessen sollte man sich bewusst sein.

Was wird am meisten gebraucht?

Das Spenden von Decken und Kleidung wie anfangs ist sicherlich nicht mehr am notwendigsten. Jetzt sind die Geflüchteten teilweise schon 1-2 Jahre in Deutschland und konnten sich etwas einleben. Jetzt brauchen Sie eine berufliche Perspektive.

Wie kann man euch unterstützen?

Um die Weiterentwicklung erster Prototypenaufgaben zu finanzieren beginnt am 21. März 2017 die Crowdfunding Kampagne von Myscio auf Startnext.
startnext.com: https://www.startnext.com/myscio-education

Mit der Crowdfunding Kampagne bewirbt sich das Team von Myscio weiterhin um den diesjährigen Deutschen Integrationspreis der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Die Projekte, die auf startnext.com die meisten Unterstützerinnen und Unterstützer für sich begeistern, erhalten eine zusätzliche finanzielle Förderung der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Mit dem Deutschen Integrationspreis möchte die Gemeinnützige Hertie-Stiftung überzeugende Integrationsprojekte finden, fördern und sie bei der Umsetzung begleiten und auszeichnen. Dafür wird die Stiftungsförderung mit Crowdfunding kombiniert. Für die Finanzierung von Projekten und das Preisgeld stellt die Hertie-Stiftung über 200.000 Euro bereit: www.deutscher-integrationspreis.de

Weitere Informationen zum Projekt Myscio findet ihr unter https://www.facebook.com/myscio/ und
http://duisburg.socialimpactlab.eu/community/details/myscio-3669

Was macht euch zu Changern?

Bisher kommen Geflüchtete in ein fremdes Land und ihrer Kultur und Arbeitsphilosophie wird kaum Interesse und Respekt entgegengebracht. Wir sehen uns als Botschafter der Geflüchteten, um Unternehmen und Institutionen darauf Aufmerksam zu machen, dass Menschen aus fremden Kulturen keine Belastung darstellen, sondern vielmehr eine Bereicherung für unsere Gesellschaft sind. So können beispielsweise interkulturelle Teams neue Marktperspektiven und darüber hinaus eine innerbetriebliche Willkommenskultur schaffen.