Von Berlin nach Lampedusa

Die alltägliche Tragödie auf dem Mittelmeer verstehen.

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by Michael Fiebig, May 5, 2017
Flüchtlinge auf Boot

ursprünglich erschienen: 29.09.2015

Tagtäglich sind die Medien voll von Informationen und Bildern, die die Flüchtlingsproblematik thematisieren. Dennoch können die meisten Europäer das Ausmaß der humanitären Katastrophe, die momentan an der europäischen Außengrenze stattfindet, nicht richtig einschätzen – das Problem ist schlichtweg zu weit entfernt vom Alltag vieler Menschen. Wie sieht die Situation tatsächlich vor Ort aus? Und wie kann konkret Hilfe geleistet werden? Dies sind Fragen, die auch den in Berlin tätigen Arzt Dr. Thomas Lenzen umtrieben. Kurzerhand tauschte er daher für drei Wochen seinen Alltag in Deutschland, gegen den als medizinische Begleitung auf dem privaten Rettungsschiff MS Sea Watch vor Lampedusa. Eingeladen von der BMW Stiftung berichtete er am 12. August 2015 in Berlin über seine Eindrücke und Erlebnisse. Ein Lampedusa Erfahrungsbericht.

Es ist Sommer – Hauptsaison in Italien. Die hohen Temperaturen erschweren die Arbeit und viele, nach Abkühlung und Entspannung suchende, Europäer treibt es an die Ferienorte am Mittelmeer. Auch die kleine italienische Insel Lampedusa gehört dazu. Mit einer Entfernung von gerade einmal 140 Kilometern zum tunesischen Festland bietet sie wunderschöne Strände mit glasklarem Wasser. Sie ist jedoch nicht nur eine idyllische Urlaubsinsel und damit Anziehungsort für europäische Touristen, sondern auch Vorposten für viele afrikanische Flüchtlinge. Durch die mediale Berichterstattung über die steigende Anzahl von Menschen, die bei der Überfahrt nach Europa ertrinken, ist Lampedusa in den letzten Jahren vor allem zu einem geworden: ein Symbol für die europäische Flüchtlingskrise.

Thomas Lenzen

„Wir erleben derzeit die höchsten Flüchtlingszahlen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ so Lenzen zu Beginn seines Vortrags. Obwohl Deutschland in seiner Geschichte bereits viele Erfahrungen mit Flucht und Migration gemacht habe, seien die deutschen Institutionen zur Aufnahme von Asylsuchenden, bei geschätzten 450.000 allein im bisherigen Jahr, komplett überfordert. Die humanitäre Katastrophe entstehe allerdings nicht aus der steigenden Anzahl an Asylbewerbern in Deutschland, sondern aus der erschreckend hohen Zahl derer, die an der europäischen Außengrenze ihr Leben lassen. Seit 2000 sind dort bereits 30 mal so viele Menschen gestorben wie insgesamt an der innerdeutschen Grenze. Die Hauptflüchtlingsrouten führen übers Mittelmeer nach Spanien, Griechenland, aber vor allem Italien. Die gefährliche Reise nach Europa riskieren die Flüchtlinge zumeist im Sommer, da die See etwas ruhiger ist. Völlig überfüllt und seeuntauglich sind die Boote allerdings zu jeder Jahreszeit. „Bereits kurz nach dem Ablegen geraten die meisten Boote in Seenot“ sagt Lenzen. Auf Grund der politisch unübersichtlichen Situation in Libyen sei derzeit besonders Tripolis Hotspot für Flüchtlinge und Schlepperbanden. Bevor sie dort ankommen, hätten die Flüchtlinge bereits „Wochen des Schreckens hinter sich“. Von den schätzungsweise 100.000 Flüchtlingen, die in diesem Jahr nach Italien aufgebrochen sind, starben 2.000 Menschen bei der Überfahrt. Da viele Flüchtlinge ertrinken, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt, liegt die Dunkelziffer vermutlich weitaus höher. Dabei ist die Havarie des Schiffes nicht alleiniger Grund für die hohe Opferzahl. Viele der Flüchtlinge halten die anstrengende Überfahrt nicht durch. Sie erfrieren, verdursten, oder sterben bei Auseinandersetzungen mit den Schleppern oder anderen Flüchtlingen.

Um dies zu verhindern, fungiert die MS Sea Watch seit dem 20. Juni 2015 als eine Art „schwimmende Telefonzelle“ vor der Küste Libyens. Die 8-köpfige Crew des kleinen 21-Meter-langen holländischen Fischkutters besteht aus Journalisten, Ärzten und Rettungssanitätern. Das Schiff, das mit moderner Funktechnik, Schwimmwesten, einer Rettungsinsel und medizinischem Equipment ausgestattet ist, nimmt zwar selbst keine Flüchtlinge an Bord, bringt sie aber zu größeren Schiffen und leistet Erste Hilfe. Die Idee geht auf Harald Höppner zurück, der mit seiner spontanen Schweigeminute bei Günther Jauch auf das Projekt aufmerksam machte. Laut Lenzen habe sich das Konzept trotz anfänglicher Kritik bewährt. Der große Vorteil sei demnach, dass die MS Sea Watch nicht ständig in den Heimathafen zurückkehren muss, sondern durchgängig auf hoher See nach Flüchtlingen in Seenot Ausschau halten kann. Die Crew werde dabei von anderen Akteuren der Seenotrettung mit Koordinaten unterstützt. Dazu zählen unter anderem Ärzte ohne Grenzen, MOAS und die italienische Küstenwache. Nach anfänglichem Misstrauen sei die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteure mittlerweile durchaus gut. P1060822-1

Sobald die MS Sea Watch ein Flüchtlingsboot in ihrer Nähe entdeckt hat, macht es sich auf den Weg. Laut Lenzen ist es dabei sehr wichtig, sich vorsichtig anzunähern. „Die Flüchtlinge wissen zunächst nicht, wer da kommt“. Es könnte ein Rettungsschiff sein, aber auch ein Militärschiff oder eine Schlepperbande, die weiteres Schutzgeld erpressen will. Nach der ersten Kontaktaufnahme werden Rettungswesten verteilt und eine Bestandsaufnahme für die Erste Hilfe durchgeführt. Damit die Rettung geregelt abläuft und es nicht zu Zwischenfällen kommt, ist es sinnvoll einen Bootssprecher zu bestimmen, der zwischen beiden Seiten vermittelt. Oftmals stünden hier jedoch Sprachbarrieren im Weg. Die Crew der MS Sea Watch ruft danach ein sich in der Nähe befindendes Schiff mit ausreichend Kapazitäten um Hilfe. An Bord des Schiffes werden die geschwächten Flüchtlinge dann behandelt und in das Aufnahmelager nach Lampedusa gebracht. „Jedes Schiff ist verpflichtet Seenotrettung zu betreiben“ sagt Lenzen. Ansonsten drohen rechtliche Konsequenzen. Leider ignorieren viele Menschen diese Vorschrift.

„Ich hätte mich nach einem ganztägigen Einsatz gerne selbst ins Krankenhaus eingeliefert“, kommentierte Lenzen die anstrengende Arbeit auf offenem Meer. Der tägliche Einsatz lohne sich aber auf jeden Fall. Es sei zwar zunächst nur „ein Tropfen auf den heißen Stein“, aber es zeige, dass zivilgesellschaftliches Engagement in Krisengebieten tatsächlich etwas bewirkt.

Text: Michael Fiebig

Fotos Thomas Lenzen