Ich erinnere mich genau an den Moment, in dem einer meiner ersten Chefs etwas sagt, was mich nicht mehr loslassen sollte: „Wer Prioritäten benennt, muss auch Posteoritäten benennen.“ Also benennen, was nicht ganz vorn auf der Liste steht, sondern hintenangestellt werden soll. Zu sagen, was wichtig wäre, ist leicht. Die echte Herausforderung ist zu sagen, was wir nicht machen sollten. Was gehen darf. Gestrichen werden. Obwohl es vielleicht das Herzensthema der Kollegin ist – oder das eigene. Obwohl es gut klingt, Kund*innen bringt oder wir schon viel investiert haben. Obwohl es doch wichtig ist!
Danke, lieber Ex-Chef, diese Einsicht hat mir so manchen Ärger eingehandelt, wenn ich vorgeschlagen habe zu streichen. Wenn ich darauf hingewiesen habe, dass wir nicht alle Themen zu Prioritäten machen können. Und es hat zu wirklich peinlichen Situationen geführt. Als ich argumentierte, meine Priorität sei mich zu Wettbewerbsrecht und Marktkonzentrationsdynamiken einzulesen, um die Konzernmacht im Saatguthandel zu verstehen, nickten alle zustimmend. Als ich erläuterte, dann hätte ich erstmal keine Zeit das Thema Geschlechtergerechtigkeit in diesen Arbeitsstrang einzuflechten, herrschte betretenes Schweigen. Könne ich nicht doch beides machen?
Zu sagen, was alles wichtig ist, ist einfach. Zu benennen, womit wir uns nicht beschäftigen werden, ist verdammt schwer.
Deshalb habe ich in meiner gesamten Studien- und Berufszeit von nun immerhin schon 20 Jahren auch noch nie erlebt, dass Priorisierungsprozesse dazu geführt haben, dass dauerhaft Zeit und Raum für das wirklich wichtige entstanden ist. Denn in der Regel haben wir in Strategie- und Planungstreffen benannt, was wichtiger ist als anderes, aber nicht, was wir tatsächlich streichen. Alles blieb auf der Liste, es war zwar depriorisiert, aber immer noch da. Und wollte damit irgendwie immer noch bearbeitet und geschafft werden.
Dieses Vorgehen führt unweigerlich in die Überlastung – von Einzelnen, von Teams, von ganzen Organisationen – und damit irgendwann in die Erschöpfung. Dann wird der Wunsch laut nach konkreteren Planungstools, härterer Überstundenregelung, stärkerer Leitung durch die Führungskraft und, vor allem, mehr Priorisierung. Was alles nichts nützen kann, wenn das Loslassen nicht eingeübt wird.
Nicht loszulassen ist nämlich aus zwei Gründen problematisch: Erstens, weil es uns beschwert, und zweitens, weil wir unsere Energie dadurch auf zu viele Projekte verteilen.
Zum Ersten Punkt bitte ich euch, mit mir eine kleine somatische Reise zu machen, um das „Beschweren“ tatsächlich zu spüren. In der Reise stellen wir uns vor, die Aufgaben wie Bälle in der Luft zu halten. Indem wir Prioritäten benennen, machen wir die priorisierten Aufgaben größer und wichtiger – halten also erst einmal schwerere, größere Bälle in der Luft. Nur, wenn wir explizit machen, was wir tatsächlich streichen, also welche Bälle wir ablegen, wird es leicht. Und das „Beschweren“ kann hierbei viele Formen annehmen: den Mental Load, der immer damit einhergeht, viele Bälle in der Luft zu halten – egal ob große oder kleine. Immer wieder zu prüfen, ob schon genug Zeit für die weniger wichtigen Punkte ist, weil die Prioritäten ausreichend abgearbeitet sind, was Aufmerksamkeit zieht und uns immer wieder zweifeln lässt. Ein Gefühl, nicht genug zu sein, weil wir doch nicht alles halten können, obwohl wir doch schon priorisiert haben. Aber spürt selbst für euch, wie es sich anfühlt Aufgaben zu priorisieren versus sie abzulegen:
Hier ein kleines Übungsvideo dazu.
Zum zweiten Punkt, warum es problematisch ist nicht loszulassen, möchte ich an einen speziellen Moment in der Entwicklung von Projekten hinweisen. Der Moment am Anfang, wenn ganz viele Ideen präsent sind. Viele kleine Pflänzchen, die gegossen, gepflegt und gehegt werden wollen. Von denen viele vielversprechend aussehen, schön und so, als würden sie mal gute Früchte bringen. Aber jede Pflanze braucht genug Boden für sich allein, damit sie gedeiht. Darum pikieren Gärtner*innen: sie nehmen Keimlinge und pflanzen sie um, damit sie jeweils genug Platz haben. Sind sehr viele der vorab gesäten Samen aufgegangen, müssen Gärtner*innen selektieren: Sie wählen einige Keimlinge aus, die neu eingepflanzt werden, und die übrigen tun sie auf den Kompost. Nur so kriegen die eingepflanzten Keimlinge jeweils genug Erde, Wasser und Sonne ab.
So ist es auch mit vielen Projektideen oder Veränderungsmöglichkeiten in Organisationen: Wenn wir zu viel angehen, ist für die einzelne Idee nicht genug Ressource vorhanden. Wie es im Englischen so treffend heißt: „Spreading oneself too thin.“ Sich auf zu viel aufzuteilen gibt Menschen das Gefühl, einen Mangel an Zeit, Geld oder Kolleg*innen zu haben, zu wenig zu tun, zu wenig zu sein. Es entsteht ein Gefühl von Mangel, wo eigentlich hätte Fülle sein können: erst eine Fülle an Ideen, und dann, wenn wir tatsächlich selektieren, d.h. einige auswählen und andere wegtun, eine Fülle zum Beispiel an Zeit, Nerven und Geld dafür.
Deshalb ist meine Empfehlung: Ladet in die nächste Planung und Strategiebesprechung bewusst das Loslassen ein. Fragt euch: Was lassen wir los? Was ist tatsächlich unseres zu tun – und was nicht? Und was brauchen wir, um gut loslassen zu können – als einzelne und gemeinsam?
Die letzte Frage ist ganz zentral, denn Loslassen ist aus einer Vielzahl von Gründen schwer. Oberflächlich betrachtet kommen meist Sachargumente, warum dieses oder jenes Projekt, dieses oder jenes Thema bleiben muss:
- „Da hat Kollegin XY eine besondere Expertise.“
- „Das Thema ist so wichtig, das können wir heutzutage nicht mehr ignorieren.“
- „Der Vorstand möchte, dass wir diesen Punkt besonders beachten.“
- „Das Problem ist so groß. Wir können doch nicht…“
Dahinter liegen meist sehr tief sitzende Glaubenssätze und Haltungen, um nur ein paar Beispiele zu nennen:
- Es ist meine Pflicht zu helfen, wenn ich ein Problem sehe. Ich muss andere Menschen, die Gesellschaft, die Organisation retten.
- Bestimmte Themen gelten in meiner Peer-Gruppe oder meiner Organisation gerade als so zentral, dass es sich grundlegend falsch anfühlt sie nicht zu tun, sobald sie einmal im Raum stehen. In meiner Blase wären das gerade zum Beispiel Geschlechtergerechtigkeit, ökonomische Ungleichheit, Rassismus, Klimagerechtigkeit – und zwar alle mit hohem Anspruch: nicht „so, wie es mir gerade möglich ist“, sondern „so, wie es dem Ideal entspricht“.
- Geschäftigkeit als ein Zeichen davon, gut und hart zu arbeiten. Wir wünschen uns genug Raum und Zeit im Arbeitsleben, aber zugleich ist es uns suspekt. Denn wir kennen de facto niemanden, der oder die nicht immerzu sagt, er oder sie habe zu viel zu tun.
- Wert durch Leistung: Nur wenn ich alles schaffe, bin ich okay, sonst habe ich etwas falsch gemacht, mich nicht genug angestrengt etc.
- Was, wenn jemand kritisch nachfragt? Zu sagen, man habe an alles gedacht, aber eben nicht alles geschafft, geht viel leichter über die Lippen also zu sagen „Ich habe mich bewusst dafür entschieden, dies nicht zu tun. Ich habe es gestrichen.“. Und zwar bevor ich völlig überarbeitet war, zu Beginn, um erst garnicht in die Überarbeitung zu kommen.
Zu sagen, was wichtig ist, ist leicht. Zu streichen ist sehr schwer.
An diesen Punkten etwas zu ändern, erfordert innere Prozesse - mit Zeit, mit der Bereitschaft sich wirklich zu verändern, manchmal braucht es auch externe Begleitung. Da kommt mensch nicht mal eben im Planungsmeeting dran – und vielleicht sowieso nicht im Teamkontext, sondern eher im geschützteren Rahmen außerhalb der Arbeit. Mir ist wichtig das zu schreiben, denn es gibt keine schnellen Lösungen, die das Loslassen plötzlich leicht und einfach werden lassen.
Was umgekehrt nicht heißen soll, ihr könntet es euch nicht etwas leichter machen im Arbeitsalltag. Hier ein paar Tipps für Planungs- und Strategiebesprechungen:
- In sich reinspüren: Sagt mein Körper wirklich Ja zu all diesen Dingen oder ist es nur mein Kopf, der mich drängt alles zu tun? Wie geht es mir damit? Wie geht es mir, wenn ich mich bewusst zurücklehne, den Stuhl spüre und ein paar ruhige Atemzüge nehme? Kann ich differenzieren: Wozu spüre ich wirklich ein ganzkörperliches Ja, wo nur Pflichtbewusstsein oder eine mahnende Stimme im Kopf?
- Sich das körperliche Gefühl der Erleichterung wieder vergegenwärtigen, als du dir vorgestellt hast, Bälle abzulegen (siehe Video-Spürreise oben). Es ein paar Momente innerlich genießen. Und dann erneut auf die Liste schauen: Was wäre der Ball, der sich erleichternd anfühlen würde abzulegen? Kann ich das tun?
- Falls nicht, kann ich diese Aufgabe sinnvoll an jemand anderen übergeben?
- Wenn nicht und ich sie nicht endgültig loslassen kann gerade, kann ich ausprobieren mir selbst zu sagen: „Ich lege sie auf Wiedervorlage in einem halben Jahr.“ oder „Sie ist meins, aber nicht für diesen Planungszyklus.“ Und sie dann tatsächlich an dieser Stelle zu streichen und sich ggf. an anderer Stelle eine Erinnerung in den Kalender zu setzen. (Oder davon auszugehen, dass sie sich von selbst wieder auf die Tagesordnung setzen wird, wenn sie wirklich so sehr gemacht werden möchte.)
- Sich niemals, wirklich nie als Entscheidungskriterium zu fragen „Ist dieses Thema (mir) wichtig?“, sondern stattdessen „Ist es meine/unsere Aufgabe es zu adressieren? Bin wirklich ich/sind wirklich wir dazu jetzt gerade berufen?“ Manches ist wichtig, manches ist sogar ganz speziell uns wichtig, und trotzdem nicht unseres umzusetzen.
Ich denke, dieser letzte Punkt weißt auf einen ganz entscheidenden Fallstrick des Priorisierens hin. Priorisieren wird oft – wie auch hier – implizit gleichgesetzt mit „Das ist wichtig, gut, richtig zu tun.“ Aber der Gegenpol, das „Posteorisieren“, sagt nicht unbedingt, ein Thema oder eine Aufgabe sei unwichtig, schlecht oder falsch. Es sagt nur: Es ist nicht meins jetzt zu tun. Deshalb lasse ich es los.
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Über die Autorin
Dr. Barbara Sennholz-Weinhardt begleitet werteorientierte Organisationen und Unternehmen in Entwicklungsprozessen. Ziel ist dabei, dass Menschen freudvoll und produktiv zusammenarbeiten und Projekte gemeinsam gestalten können ohne auszubrennen oder sich zu verzetteln. Als promovierte Politökonomin hat sie 15 Jahre im Bundestag und für verschiedene Nichtregierungsorganisationen zu Fragen einer sozial und ökologisch gerechten Wirtschaft gearbeitet. Als Teil der Organisationentwicklung iniciato ergänzt sie diese politische Erfahrung inzwischen als Prozessbegleiterin und Bewegungspädagogin um spürende Körperarbeit: Menschen einzuladen und anzuleiten die eigene Arbeit buchstäblich in Bewegung zu bringen, Konflikte, Spannungen und Bedürfnisse produktiv zu nutzen und so die eigenen Aufgaben klarer, gestärkter und fokussierter anzugehen.
Loszulassen statt festzuhalten ist an mehreren Stellen im Entwicklungszyklus von Projekten und Organisationen interessant. Wer sich tiefer damit beschäftigen möchte, wie ein zyklisches Verständnis zu mehr Energie, Leichtigkeit und einem Gefühl von Fülle führt, findet hier mehr Ressourcen.