Im Anpacken liegt die Veränderung

Wie die Flüchtlingsdebatte ein neues Selbstverständnis von Engagement schaffen kann.

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von Philipp von der Wippel, April 19, 2017
Engagement-Fluechtlingsdebatte

ursprünglich erschienen: 09.10.2015

Kein Thema beherrscht die Öffentlichkeit aktuell so sehr wie die Aufnahme von Geflüchteten in Europa und speziell in Deutschland. Inzwischen hat die Politik die Flüchtlingsthematik zur Chefsache gemacht. Denn die letzten Wochen haben gezeigt, dass die ansteigende Zahl von Geflüchteten kein einmaliges Vorkommnis ist, sondern eine langfristige Herausforderung darstellt. Nun setzt das Handeln der Politik ein: Sondergipfel finden statt und die Budgets für unmittelbare Hilfe werden mit Hochdruck durch die Parlamente gejagt. Doch wer hat es geschafft, im ersten Moment eine humanitäre Katastrophe  zu verhindern?

Von Facebook zur Freiwilligenarbeit

Es waren die ehrenamtlichen HelferInnen. Es waren diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die aus eigener Entscheidung sich zusammengetan haben und aus dem nichts heraus eine Erstaufnahme binnen wenigen Stunden auf die Beine gestellt haben: Erstversorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und einem medizinischem Check. Am Hauptbahnhof in München schoss die Zahl der ankommenden Geflüchteten in einer Nacht in die Höhe. Zeitgleich stieg die Zahl der Facebook-Posts immer weiter an, in denen HelferInnen nach mehr Sachspenden und nach mehr Freiwilligen fragten. Doch die Facebook-Rufe verhallten nicht, sondern eine virtuelle Community verwandelte sich in nur wenigen Stunden in eine reale Gemeinschaft. Manche kauften Supermärkte halb leer und schoben die Einkaufswagen in Richtung Bahnhof. Andere legten direkt eine Nachtschicht als HelferIn ein. In diesen ersten Tagen hätte es allen Grund zur Überforderung der freiwilligen HelferInnen gegeben.

Gemeinsam anpacken

Doch je mehr Geflüchtete ankamen, desto größer wurde die Gruppe an Ehrenamtlichen und stärker der Zusammenhalt untereinander. Hilfsbereite Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen packen weiterhin gemeinsam an. All die Unterschiede wie Herkunft, Religion oder politische Überzeugung, die gewöhnlich den einen vom anderen in unserer Gesellschaft trennen, sind nicht mehr vorhanden. Das gemeinsame Anpacken entwickelt ein Wir-Gefühl mit der Aussage, dass jeder mit seinen Fähigkeiten gebraucht wird. Viele scheuen nicht davor zurück, persönliche Hürden auf sich zu nehmen, um helfen zu können. Dutzende DolmetscherInnen, selbst aus den betroffenen Krisenregionen stammend, sind rund um die Uhr präsent. Der starke Wunsch nach Engagement führt bei manchen HelferInnen so weit, dass sie nach Hause geschickt werden müssen, um nicht die Nächte lang durchzuarbeiten.

Die Frage nach der Motivation

Aber woher kommt plötzlich der unbedingte Wille vieler Menschen, diese gesellschaftliche Herausforderung durch persönlichen Zeit- und Mitteleinsatz in den Griff zu bekommen? Wohin ist die ansonsten omnipräsente Politikverdrossenheit entschwunden? Was hat so viele freiwillige HelferInnen dazu gebracht, die üblichen hemmenden Gedanken beiseite zu schieben, wie zum Beispiel „Ist das meine Aufgabe? Warum soll ich das ausgerechnet tun? Bin ich dazu überhaupt befugt? Kann das die Politik nicht viel besser lösen?“ Woraus entstand das Gefühl der moralischen Pflicht, unaufgefordert aus Eigeninitiative heraus beispielsweise selbst mitgebrachte Lebensmittel zu verteilen? Was ist an der derzeitigen Flüchtlingssituation anders als an der Euro-Krise, am NSA Skandal oder dem demographischen Wandel? Um sich diesen Fragen zu nähern, halte ich drei Aspekte für signifikant und hilfreich.

Mitgefühl

Erstens erzeugt die Thematik ein gesteigertes Maß an Mitgefühl bei den Menschen. Geflüchtete Menschen ohne Hab und Gut berühren unseren menschlichen Kern. Dies ist zum Beispiel bei der großen Herausforderung des demographischen Wandels nicht der Fall. Dadurch dass wir – im wahrsten Sinne des Wortes – betroffen sind, entwickeln wir eine intrinsische Motivation für Engagement. Das Mitgefühl macht es vielen schwer, nur ZuschauerIn des Geschehens zu bleiben, sondern es führt zu Identifikation und drängt zum Handeln.

Lokalität

Zweitens führt die lokale Nähe der Krise zu einem größeren Verantwortungsgefühl. Indem die Szenen der ankommenden Geflüchteten sich in den Hallen des eigenen Bahnhofs abspielen, zeigt sich die Krise in der Realität jedes einzelnen. Für viele BürgerInnen scheinen politische Diskussionen oft ein fiktives Problem zu bearbeiten, das auf den Alltag wenig Konsequenzen hat. Spätestens wenn wir merken, dass es für den Klimawandel leider keinen Unterschied macht, ob wir die Tagesnachrichten verfolgen oder nicht, bestätigt sich das Gefühl der Ohnmacht. Wenn das Problem uns jedoch vor der eigenen Haustür konfrontiert, dann steigen die Optionen und die Bereitschaft zu handeln.

Mitgestaltungswille

Drittens ist es möglich, unmittelbar anzupacken und den Status Quo durch eigenes Zutun tatsächlich zu verändern. Binnen weniger Tage war es möglich, sich über Doodle-Listen online für Helferschichten einzutragen. Es braucht nicht mehr, als zwei Klicks, ein U-Bahn Ticket und ein paar Stunden Zeit um zu helfen. Während die Bevölkerung sich in den meisten politischen Herausforderungen machtlos fühlt, hat sich angesichts steigender Not innerhalb weniger Tage die Stimmung entwickelt, dass wirklich jeder die Situation ein wenig besser machen kann.

Wenn diese Aspekte den Unterschied machen, dass sich tausende Menschen aktuell für Geflüchtete engagieren, dann kann dies auch in anderen Problemfeldern in der Zukunft dupliziert werden. Deshalb lasst uns die Chance nutzen, Mitgefühl, Lokalität und Mitgestaltungswille auch beim Klimawandel und bei vielen weiteren Problemen unserer Zeit zu erzeugen. Dies würde uns ein neues Selbstverständnis der Zivilgesellschaft geben und kann die Antwort auf Politikverdrossenheit sein. Wir brauchen eine Gesellschaft die den Mut und den Willen hat jedes Problem anzupacken und zu gestalten. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“, Erich Kästner.

 

Über den Autor:

Philipp von der Wippel ist ein neunzehnjähriger Sozialunternehmer aus München. Er hat die gemeinnützige Organisation ProjectTogether gegründet und maßgeblich aufgebaut. Sie bewegt Menschen zum Mitgestalten und ist die erste Anlaufstelle, um eine eigene Initiative zu starten. ProjectTogether bietet kostenfreies Telefon-Coaching für soziale Ideen in der Frühphase an, um die Gruppe an Engagierten in Deutschland zu vergrößern.