Über das Gleichgewicht zwischen Ehrgeiz, Demut und transgenerationalem Eingebettetsein

Was ich mir zumute, was ich mir zumuten kann und wie es um die Mission steht, die Welt zu verändern.

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von Sohra Behmanesh, February 23, 2022
transgenerationalem Eingebettetsein

Header: LeeAnn Cline via Unsplash

Mit dieser Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von Wildling Shoes den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“. Unsere Kolumnist*in für das Jahr 2022 ist Sohra Behmanesh.


Bild: Privat; Beschreibung: Auf einer Raufasertapete ist in Großaufnahme ein weißer Zettel zu sehen, der mit geblümten Washi-Tape angeklebt ist. Darauf steht: „I am not responsible for the movement of the world only what I can handle what I can take in is the right amount” – Ted Sexauer.

Es ist oft ein schmaler Grat:

Über das nahe und ferne Weltgeschehen seriös und gut genug Bescheid wissen, um über meinen Tellerrand schauen und mich gewissenhaft dazu verhalten zu können, und gleichzeitig selbstfürsorglich prüfen, welche und wie viele Informationen gerade für mich zumutbar sind.

Demütig, dankbar und verantwortungsbewusst meine Privilegien anerkennen, und gleichzeitig mir und allen anderen unsere Ängste, Nöte und Sorgen erlauben.

Akzeptieren lernen, wo die Grenzen meiner Wirksamkeit, meines Einflusses, meiner Ressourcen sind, und gleichzeitig nicht das aus dem Blick verlieren, was jenseits dieser Grenze liegt.

Ehrgeizig und aktivistisch bleiben, und gleichzeitig mir Ruhe gönnen.

Mir alle meine Gefühle bedingungslos erlauben, und gleichzeitig auf dem Schirm behalten, dass nicht alles, was mir meine Gefühle über die Welt oder mich erzählen, die Wahrheit ist.

Mich um später und morgen und den ganzen Meta-Kram kümmern, und gleichzeitig den Kontakt zum Hier und Jetzt nicht verlieren.

Mich für Kritik an dem, das ich tue, interessieren und als Gelegenheit für Wachstum und Entwicklung wahrnehmen, und gleichzeitig die Klarheit behalten, dass sie möglicherweise unberechtigt ist.

Die Berechtigung meiner Bewältigungsstrategien freundlich und weich anerkennen, und gleichzeitig wissen: Sie sichern mein Überleben, aber um blühen und strahlen zu können, ist es wichtig, immer öfter den Absprung zu schaffen.

Eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit, des Verzeihens und der Güte üben, und gleichzeitig die Grenzen meiner Integrität schützen.

Überschätzen, was ich an einem Tag, und unterschätzen, was ich in einem Jahr schaffen kann.

Ich wollte schon immer die Welt verändern. Und vielleicht ist es meiner neurodivergenten Naivität geschuldet, wie lange ich gebraucht habe, um irgendwann endlich zu verstehen, dass dahinter einerseits eine völlige Selbstüberschätzung liegt – und andererseits eine völlige Selbstüberlastung. Denn auch das ist ein schmaler Grat: sich zutrauen, Großes und Gutes zu schaffen, und gleichzeitig bescheiden in Verbindung mit der Realität zu bleiben. Wie stecke ich meine Ziele, dass sie hoch genug sind, dass ich über mich hinauswachsen kann, und auch Raum für Fehler und neue Anläufe lassen UND auch noch im Blick behalte, dass mir die Gesellschaft als mehrfach marginalisierte Person sowohl weniger zutraut als auch mehr abverlangt – und gleichzeitig mein Können nach unten wie nach oben realistisch und achtsam im Bewusstsein behalten? Ich beginne zu begreifen, dass ich das vielleicht gar nicht beantworten muss, weil es okay ist, wenn das ein prozessorientiertes Unterfangen ist und bleibt.

Ich komme aus einer Familie, die mir aus komplexen Gründen nicht als Vorbild dienen konnte. Und ich habe mir einige Jahre etwas darauf eingebildet, was in dieser oder ähnlichen Form auch öfter als Internet-Meme in meinen Social-Media-Feeds auftaucht: „I am the one who breaks the cycle!“ – Ich bin diejenige, die den Kreislauf durchbricht! Und vor kurzem wurde mir bewusst, dass das nicht stimmt. Ich bin zwar tatsächlich sehr erfolgreich in meinem Bestreben, viele Dinge komplett anders zu machen als meine Eltern – aber mir wurde klar, dass meine Maßstäbe die meiner Generation und meiner Lebensumstände sind. Mein Vater hat z.B. den Kreislauf der Armut seiner Familie durchbrochen. Meine Mutter hat den Kreislauf des Analphabetismus der Frauen ihrer Familie durchbrochen. Mein Großvater hat einen Kreislauf durchbrochen, indem er seinen Töchtern wie seinen Söhnen akademische Bildungswege ermöglicht hat. Mir wurde bewusst: Ich bin dort, wo ich bin, weil ich auf den Schultern meiner Eltern stehe, auf den Schultern meiner Großeltern, meiner Urgroßeltern und allen anderen, die vor mir da waren. Und auf meinen Schultern werden meine Kinder stehen. Ich finde das tröstlich, empowernd – und unfassbar erleichternd. Ich bin nicht dafür verantwortlich, DEN Kreislauf zu durchbrechen. Ich trage bei, was ich in diesem Leben, mit diesen mir zur Verfügung stehenden Ressourcen schaffen kann. Und ich kann davon nähren, was meine Vorfahren vorgearbeitet und an mich weitergegeben haben – und ich kann meinen Kindern und Kindeskindern zutrauen, dass sie diese Entwicklung weiterführen.

Ich bin und wir sind eingebettet in ein Ganzes, etwas Altem und etwas Neuem.

„Ich bin nicht verantwortlich
für die Bewegung der Welt.
Nur das, was ich bewältigen kann
was ich aufnehmen kann
ist die richtige Menge.“

Ted Sexauer

 

About

Sohra Behmanesh lebt mit ihrer Familie in Berlin, arbeitet als freiberufliche Anti-Rassismus-Trainerin und findet Fürsorge und Empathie ebenso großartig wie Intersektionalität.


Foto: Kris Wolf

www.instagram.com/sohra.beh
www.empathische-elternschaft.de