Die Zukunft der Sozialwirtschaft ist grauhaarig und männlich. Noch.

Beim Zukunftskongress der Sozialwirtschaft hat man eher das Gefühl in die Vergangenheit gespült zu werden.

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by Sabine Depew, June 1, 2017
zukunft-sozialwirtschaft

Perspektive #5: Sabine Depew tritt am 1. Juli ihr Amt als Vorstandsvorsitzende des Diözesan-Caritasverbandes Essen und Diözesancaritasdirektorin im Ruhrbistum an. Sie war beim Zukunftskongress der Sozialwirtschaft und schreibt für uns darüber. 

Zukunftskongress der Sozialwirtschaft:

Die vernetzte Gesellschaft sozial gestalten lautet die Programmatik des Kongresses. Wow, das klingt vielversprechend. Hält der Kongress, was er verspricht?  

Mir sind die Menschen und Themen des Events keine Unbekannten. Man (weniger Frauen) kennt sich in der Sozialwirtschaft. 

Als Führungskraft in der Sozialwirtschaft haben mich diese Themen einfach zu interessieren: 

  • neue Finanzierungsmöglichkeiten und Gemeinnützigkeit
  • die Megatrends der nahen Zukunft
  • die Roboter in der Pflege
  • das Innovationsmanagement
  • die Unternehmensstrategie zur Digitalisierung

Und sie interessieren mich. Brennend!

Der Kongress tanzt

Ich fühlte mich an den Caritaskongress vor einem Jahr erinnert. Die Führungskräfte der Sozialwirtschaft sind männlich, grauhaarig und deutschstämmig. Das Ambiente ist gehoben. Der Fernseher aber eine alte Röhre. Es twittert niemand (außer mir und einem jungen Journalisten von Wohlfahrt intern). Ein heimliches Bekenntnis, man sei auf Facebook, aber niemand solle es wissen.

Soviel zur vernetzten Gesellschaft.

Als die jungen Highpotentials und Startups am nächsten Tag kommen, wirken sie wie Fremdkörper. Sie dürfen sagen, was sie stört und unter welchen Bedingungen sie bei der Wohlfahrt arbeiten würden: „kreative Gestaltungsfreiräume, Selbstwirksamkeit erfahren und Spaß bei der Arbeit haben dürfen“. Vielleicht sagen jetzt einige, aber genau so ist es doch bei uns. Wirklich? Was die Highpotentials nämlich auf keinen Fall möchten: ewig über Strukturen reden und ausführende Organe sein.

Zum #SozKon, diesen hashtag hat der Kongress, wird aber nicht kommuniziert, geben sie aufgefordert dieses kritische Feedback: 

„Fehlende Diversity der Teilnehmenden, wenige weibliche Führungskräfte und Formate zu wenig beteiligend.“

Dann ging es wieder runter vom Podium und ein honoriger Zukunftsforscher hielt eine mit Zitaten gespickte Rede, in der er immer wieder darauf verwies, dass man die Zukunft nicht vorhersagen könne. Auch er nicht. Die Rede entspannte das Publikum deutlich. Es hatte schon gedacht, jetzt müsste von heute auf morgen alles geändert werden. 

Ja, aber genau das steht an! 

Die Workshops

Meine Themen: Die nationale Robotikstrategie der Kranken- und Altenhilfe in Japan, Arbeiten 4.0 und Kompetenzprofile von Mitarbeitenden in einer vernetzten Gesellschaft. Wir suchen in Essen gerade einen Referenten für die Altenhilfe, der oder die auch digitale Kompetenzen haben soll, von daher passend.

Das Thema Digitalisierung: Wie nur damit umgehen, fragen sich viele. Zwei große Stiftungen der Sozialwirtschaft haben Antworten: Sie haben ihre gesamte Organisationsstruktur durchdekliniert und mit Strategieprozessen und -projekten hinterlegt. Erst bin ich voller Neid und plötzlich denke ich: das ist ja so was von 90er. Das ist ja wieder Beschäftigung mit den eigenen Strukturen. Wo bleibt denn da die Kreativität, das Agile? So wird sich nicht wirklich was ändern. Bin jedenfalls gespannt wie diese Unternehmen in ein paar Jahren aufgestellt sein werden.

Zukunftsorientierte Sozialwirtschaft

Die Frage, die mich treibt ist: Wie muss eine moderne Organisation der Sozialwirtschaft heutzutage aufgestellt sein, um den Anforderungen ihrer Mitglieder zu genügen?

Antwort 1: Egal, ob es sich um eine Stiftung, einen Verein oder ein Startup handelt, lautet: indem sie sich an den Bedarfen der Kunden ausrichtet. Klingt banal, ist es aber nicht.

Was wir von Startups lernen können: sie sind mit ihrem Ohr am Nutznießer, zum Beispiel das Netzwerk Integreat. Darum sind sie erfolgreich. Sie passen das Produkt permanent an die Bedarfe ihrer Kunden an.

Wir müssen die Probleme unserer Mitglieder (Kunden) mit neuen Methoden lösen.

Unsere Ablaufprozesse müssen so ausgerichtet sein, dass die Probleme der Mitglieder (Kunden) schnell und effizient angegangen werden.

Antwort 2: Welche Produkte brauche ich, um Kundenzufriedenheit zu erreichen? Für einen Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege sind die Handlungsfelder in der Regel in der Satzung festgelegt. Aber das gibt noch keine Auskunft über Qualität und Wirksamkeit der Dienstleistungen.

Die Handlungsfelder wie Information, Beratung, Fort- und Weiterbildung, Mittelbeschaffung, Interessenvertretung gilt es, mit Produkten zu hinterlegen. Und da ist viel Gestaltungsspielraum. Bereits ein gutes Produkt pro Handlungsfeld kennzeichnet den Spitzenverband als guten Dienstleister.

Antwort 3: Die Unternehmensperspektive. Dahinter steckt die Idee, das Konzept, die Vision. Worin wollen wir uns von anderen unterscheiden? Was macht uns aus? Was ist unsere Identität? Als katholischer Wohlfahrtsverband ist das vermeintlich schnell beantwortet. Aber es geht um mehr. Es geht um ein Spezifikum. In Zeiten von Fachkräftemangel ein wesentlicher Part. Denn warum werden Menschen ausgerechnet bei uns arbeiten wollen und (erstmal) nirgendwo anders? Weil wir eine ganz konkrete Idee haben, die wir auch leben. Die die Mitarbeitenden leben und gut finden. Die uns (an-) treibt.

Antwort 4: Die Mitarbeiterperspektive. Ja, komisch, weil last. But not least. Denn erst, wenn wir die Fragen 1-3 geklärt haben, können wir wissen, welche Kompetenzen wir benötigen und für welche Mitarbeiter/innen wir anziehend sind.

Hierzu gehören auch Ablaufprozesse und Organisationsformen, die Mitarbeitende attraktiv finden, die ihre Kreativität und Leidenschaft beflügeln.

Die vernetzte Gesellschaft sozial gestalten ist ganz klar unser Ding als große Player der Sozialwirtschaft. Das können wir, da sind wir seit über 100 Jahren als Verbände, Vereine und GmbHs erprobt. 

Nur nicht digital. Um diesen Transformationsprozess gelingend zu gestalten, müssen wir uns sehr schnell wandeln. Und da sind die Kleinen vielleicht sogar im Vorteil, denn sie sind auf externe Expertise angewiesen und die gibt es im Netz. Dort bilden sich Verbünde, die rein aus Leidenschaft und der Sache wegen, Wissen teilen und Kooperationen eingehen. Shared Economy heißt ein Zukunftsbild. 

Mitmachen ist angesagt. Teil werden und sein. Wir müssen nicht selbst die Plattform bilden, aber beteiligt werden. Etwas ungewohnt, aber erfolgversprechend.

"Im digitalen Zeitalter frisst nicht der Große den Kleinen,

sondern der Schnelle den Langsamen."

Über die Autorin

Sabine Depew tritt am 1. Juli ihr Amt als Vorstandsvorsitzende des Diözesan-Caritasverbandes Essen und Diözesancaritasdirektorin im Ruhrbistum an. Sie ist Diplom- Erziehungs- und Bildungswissenschaftlerin und arbeitet seit über zwanzig Jahren im Sozial- und Gesundheitssektor.

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tbd* ist ein digitales Zuhause wo Menschen, wie du Best-Practices teilen und von anderen lernen können, die ebenfalls mit Weltverbessern Karriere machen.

Zum Launch haben wir daher Top DenkerInnen und MacherInnen unter den WeltverbessererInnen - also die Menschen, die uns jeden Tag aufs Neue inspirieren und motivieren - gebeten, einen Artikel für uns zu schreiben. 

Wir stellen vor die Serie: Perspektiven. Wir haben diesen 10 sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten aus diversen Branchen und Sektoren freie Hand gegeben. Sie sollten darüber schreiben, was sie gerade - im Jahr 2017 in Deutschland - persönlich oder gesellschaftlich bewegt. Was zurück kam hat uns schwer beeindruckt und berührt. Danke dafür!