Wie wichtig, und wie unwichtig, die Arbeit ist

Was ich als Coach von der Absprunghilfe gelernt habe.

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von Tina Röbel, April 8, 2017
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ursprünglich erschienen 4. August 2016

Seit Sommer 2015 bietet tbd* gemeinsam mit Tina Röbel den Workshop „Absprunghilfe – besserer Job, bessere Welt, besseres Leben“ an.  In diesem Artikel erzählt Tina, was sie aus den bisherigen Workshops gelernt hat. Darüber, wie wichtig Arbeit ist – und wie unwichtig.

Bald 10 Termine, in vier verschiedenen Städten, mit fast 100 Teilnehmenden – Zeit, um zu reflektieren. Was habe ich als Trainerin und Coach gelernt? Über die Arbeit, den Menschen und die Frage nach dem Sinn?

Kurz zusammengefasst sind es vier Erkenntnisse und eine Frage: Arbeit ist wichtiger als ich dachte. Arbeit ist nicht so wichtig, wie ich dachte. Ich bin zuversichtlich. Und ich bin beunruhigt. Wie geht es weiter, wenn immer mehr Menschen abspringen?

Arbeit ist wichtiger als ich dachte

Durch die Workshops habe ich erst wirklich verstanden, welche Bedeutung (Erwerbs-)Arbeit hat. Natürlich gibt es Menschen, die das Modell der Erwerbsarbeit in Frage stellen und z.B. für ein bedingungsloses Grundeinkommen plädieren. Plattformen wie meingrundeinkommen.de bekommen viel Zuspruch. Aber noch ist das Zukunftsmusik. Für die meisten von uns stellt sich die Frage: Wie kann ich meinen Lebensunterhalt absichern?

Über unseren Job bekommen wir aber nicht nur Geld. Wir erfahren auch, wer wir sind. Oder besser gesagt: Wer wir in diesem Job sein dürfen. Arbeit – und auch Arbeitslosigkeit – hat einen großen Einfluss darauf, wie ich mich selbst sehe. Und wie ich von anderen gesehen werde. Was ich über mich denke und glaube. Bin ich wertvoll? Habe ich wertvolle Fähigkeiten? Kann ich etwas bewirken?

Durch die Arbeit bekommen wir Rückmeldung, wer wir sind. Wenn das etwas anderes ist, als wir uns wünschen, kann das schmerzhaft sein. Viele Teilnehmenden der Workshops wünschen sich mehr Anerkennung, mehr Möglichkeit ihr Potential zu zeigen und zu nutzen. „Ich würde mich gerne als ganzer Mensch einbringen“ wird dann oft gesagt.

Darüber hinaus schafft Arbeit starke Strukturen in unserem Leben. Sie nimmt sehr, sehr viel Zeit ein – 100 000 Stunden im Laufe eines Lebens. Und Arbeit ist unsere Art und Weise, mit der Gesellschaft in Kontakt zu sein. Über den Job prägen wir mit, was in der Welt passiert. Entweder unbewusst, so wie es von uns verlangt wird oder aktiv und als eigene Entscheidung.

Fazit: Lass nicht deinen Job entscheiden, wer du sein darfst. Lerne kennen, wer du bist. Und dann suche dir ein Umfeld, in dem du dich als du selbst einbringen kannst.

Arbeit ist nicht so wichtig

Also ja, Arbeit ist ein wichtiger Spiegel für uns und ein wichtiges Spielfeld. Gleichzeitig ist es nicht unsere einzige Möglichkeit uns einzubringen und uns selbst zu erfahren. Als Kinder der Leistungsgesellschaft neigen wir dazu, das zu vergessen. Manchmal stellen Teilnehmende auch fest, dass ihnen gerade in einem anderen Lebensbereich Erfüllung fehlt. Kein Job der Welt kann Unzufriedenheit über einen fehlenden Partner, einen auseinandergelebten Freundeskreis oder zu wenig körperliches Wohlbefinden ausgleichen.

Wir können in allen diesen Lebensbereichen ausdrücken wer wir sind. Was mache ich in meiner Freizeit? Mit welchen Menschen verbringe ich diese Zeit? Wie lebe ich? Wie ernähre ich mich? Worüber informiere ich mich? Wofür setze ich mich ehrenamtlich ein?

Man kann die Trennung von Arbeitszeit und Freizeit hinterfragen. Ich möchte an dieser Stelle nicht dafür plädieren, während der Arbeitszeit roboterhaft zu funktionieren und erst nach Feierabend wieder Mensch zu sein. Ich möchte darauf hinweisen, dass unser Leben sehr viele Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Siehe auch: http://thechanger.org/community/was-ist-eigentlich-sinn

Fazit: Bevor du deinen Job kündigst, schaue dir radikal ehrlich dein Leben als Ganzes an. Was läuft gerade total gut? Was wünschst du dir noch? Nutze deine Energie für Veränderung da, wo es gerade am wichtigsten ist für dich.

Wie beruhigend: In allen Branchen springen Leute ab

Was mich tatsächlich sehr überrascht hat: In allen Branchen und in allen Altersgruppen gibt es Menschen, die abspringen wollen. Die aus verschiedenen Gründen das Gefühl haben, so geht es nicht weiter. Die teilweise auch schon Ideen haben, wie man ihre Branche verändern könnte. Das lässt mich sehr zuversichtlich sein. Unsere Gesellschaft ist sehr komplex. Es reicht nicht, wenn ein paar wenige mit guten Ideen und kritischen Fragen etwas verändern wollen. Wir brauchen in allen Branchen, in jedem Unternehmen, in jeder Organisation Changemaker. Deshalb freue ich mich, wenn Teilnehmende nach einigen Jahren Erfahrung in ihrer Branche sagen: Das ist nett, aber man kann es besser machen.

Fazit: Du musst nicht unbedingt in den sozialen Sektor wechseln. In jeder Branche gibt es Unternehmen, die sich darum bemühen, anders und nachhaltig zu arbeiten. Oder vielleicht gibt es sogar in deiner jetzigen Stelle Spielräume für Veränderung. Stelle Fragen, suche dir Verbündete, bringe Ideen ein. Oder gründe etwas Eigenes.

Beunruhigend: Im Vordergrund steht oft das eigene Wohlfühlen

Wenn ich das vorherige Fazit nochmal lese, weiß ich, dass es anstrengend ist, was ich vorschlage. Und dass es für viele erst einmal darum geht, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Der Fokus liegt auf dem „besseren Leben“ und nicht auf der „besseren Welt“. In manchen Momenten frustriert mich das. Dann habe ich das Gefühl, man sucht Jobs wie Konsumprodukte. Bei welchem Job stimmen Kosten (Zeit) und Nutzen (Wohlfühlen) am besten. Etwas Eigenes zu gründen oder den herausfordernden Weg des Intrapreneurs zu gehen ist dann unrealistisch.

Das macht mich deshalb traurig, weil ich mir an so vielen Stellen gesellschaftliche Veränderung wünsche. Und ich mich dann frage, ob meine Teilnehmenden diesen Veränderungsbedarf nicht sehen. Warum sie nichts dafür tun.

Dann erinnere ich mich an die Weisheit aus dem Flugzeug: Put on your own oxygen mask first, before helping others. Es ist ok, erstmal die eigene Welt zu retten. Das ist der notwendige erste Schritt. Solange es uns selbst nicht gut geht, können wir nichts Gutes für andere bewirken. Erst wenn wir achtsam mit uns selbst umgehen, gehen wir auch achtsam mit der Welt um.

Fazit: Es ist völlig in Ordnung, als erstes dich selbst zu retten. Wenn es dir gut geht, bleibe nicht bei diesem ersten Schritt stehen. Gib dich nicht mit einem ein bisschen besseren Leben zufrieden. Die Welt braucht dich!

Alle springen ab, wo führt das hin?

Was die Zukunft angeht, habe ich eine große Frage. Ich bin optimistisch, dass weiterhin immer mehr Menschen abspringen wollen. Die wenigsten wollen sich mit einem halb schönen Leben zufrieden geben. Viele sehen große Veränderungsbedarfe, sowohl global, als auch national, regional und lokal. Das ist gut. Die große Frage, die sich mir stellt: Wohin mit all diesem „will for change“?

Ich wünsche mir, dass wir mutiger, innovativer, proaktiver und auch unternehmerischer uns für das einsetzen, was uns wichtig ist. Die meisten von uns haben das nicht gelernt. Schule, Ausbildung und Studium bereiten uns vor allem darauf vor, Stellen in bestehenden Organisationen zu besetzen. Was ich mir deshalb wünsche: Noch mehr Programme, wie PEP von Ashoka und die Social Entrepreneurship Acacemy, die genau diese Skills vermitteln. Noch mehr Stiftungen und Inkubatoren, wie die Benckiser Stiftung und die Social Impact Labs, die helfen, gute Ideen groß zu machen. Noch mehr Unternehmen, die sich bemühen ihr Geschäftsmodell umzustellen und dasselbe in grün zu machen.

Das alles sind Katalysatoren für die Absprungbereitschaft, die ich in den Workshops erlebe. Es ist gut, wenn jeder seinen eigenen Absprung finden kann. Selber gründen mit Unterstützung. Oder Mitarbeiten bei bestehenden NGOs, Sozialunternehmen oder Branchen-Verbesserern.

Fazit: Es gibt keinen richtigen oder falschen Absprung. Aber es sind sehr unterschiedliche Menschen, die abspringen. Wir brauchen Strukturen, die sie unterstützen ihren will for change umzusetzen. Dazu gehört auch tbd* als Plattform.

Über die Autorin

Tina Röbel ist Coach, Trainerin und Forscherin. Sie glaubt, dass gesellschaftlicher Wandel nur funktioniert, wenn wir den Mut finden, wir selbst zu sein. Mit ihrer Arbeit unterstützt Tina Menschen und Organisationen, die die Welt verbessern wollen. Im Einzelcoaching geht es dabei oft um gute Arbeit und gutes Zeit- und Selbstmanagement. Tina ist Berlinerin und lebt und arbeitet in Hamburg. Mehr zu Tina und ihrem Coachingansatz: www.tinaroebel.de