Für mehr Menschlichkeit

Die EU missachtet eigene Werte in der Zuwanderungspolitik. Ein Plädoyer von Oxfams CEO.

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von Marion Lieser, May 19, 2017

tbd* ist ein digitales Zuhause wo Menschen, wie du Best-Practices teilen und von anderen lernen können, die ebenfalls mit Weltverbessern Karriere machen.

Zum Launch haben wir daher Top DenkerInnen und MacherInnen unter den WeltverbessererInnen - also die Menschen, die uns jeden Tag aufs Neue inspirieren und motivieren - gebeten, einen Artikel für uns zu schreiben.

Wir stellen vor die Serie: Perspektiven. Wir haben diesen 10 sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten aus diversen Branchen und Sektoren freie Hand gegeben. Sie sollten darüber schreiben, was sie gerade - im Jahr 2017 in Deutschland - persönlich oder gesellschaftlich bewegt. Was zurück kam hat uns schwer beeindruckt und berührt. Danke dafür!

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Perspektive #1

Vor gut zwei Generationen waren Millionen Menschen in Deutschland und Europa auf der Flucht. Auch heute suchen viele Millionen Schutz; sie fliehen vor Verfolgung, Krieg und Armut. Weltweit sind es 65 Millionen, etwa die Hälfte von ihnen Kinder. Viele haben ihr Zuhause verloren, Angehörige oder Freunde sterben sehen. Oft haben sie alles zurückgelassen und hoffen, woanders Sicherheit und Schutz für sich und ihre Familie zu finden. Damals wie heute sind die Menschen auf Solidarität und Hilfe in der Not angewiesen.

„Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“ – Art. 6, Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Die meisten der Schutzsuchenden heute sind Binnenvertriebene im eigenen Land. 21 Millionen Menschen suchen Schutz in anderen Ländern und finden vor allem Zuflucht in Entwicklungsländern. Die reichsten Staaten der Erde hingegen nehmen zusammen weniger als 9 Prozent auf. Zu diesen reichen Ländern zählen auch die Staaten der Europäischen Union. Die Anzahl der Menschen, die bei uns Schutz suchen, ist also vergleichsweise gering.

Dennoch verbarrikadieren sich die Länder der EU und versuchen zunehmend, Menschen in Not fernzuhalten – und das, obwohl das Recht jedes Menschen auf Freiheit und Sicherheit in den Grundrechten der EU festgeschrieben ist. Es werden jedoch – wie beim sogenannten EU-Türkei-Deal – Abkommen mit Drittstaaten geschlossen, um Migranten an der Reise nach Europa zu hindern. An den EU-Außengrenzen werden Zäune errichtet. 

Wer es trotzdem schafft, europäischen Boden zu betreten, muss oftmals auf unbestimmte Dauer unter unwürdigen Bedingungen und ohne Zugang zu fairen Asylverfahren ausharren oder wird auf rechtlich fragwürdiger Grundlage wieder abgeschoben. Der Nachzug von Familienangehörigen wird für Geflüchtete immer mehr eingeschränkt. Ziel ist offenkundig nicht der Schutz von Menschen, sondern deren Abschreckung. 

Bei unserer Arbeit in Griechenland und Italien sehen wir täglich, welche verheerenden Folgen diese Politik für Schutz suchende Menschen hat, und haben dies in Berichten dokumentiert.

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“ – Art. 4, Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Besonders erschreckend sind die Schikanen, denen Menschen auf der sogenannten Balkan-Route in Serbien, Mazedonien, Kroatien, Ungarn und Bulgarien durch Polizisten und andere Sicherheitskräfte ausgesetzt sind. Gemeinsam mit serbischen und mazedonischen Menschenrechtsorganisationen hat Oxfam Geflüchtete befragt und die Ergebnisse veröffentlicht.

Die Berichte zeugen von teils schweren Misshandlungen – auch gegenüber Kindern. Demnach wurden Menschen in Bulgarien drei Tage lang ohne Essen in käfigartige Zellen gesperrt und mit Elektroschocks gequält. Andere berichteten, ungarische Polizisten hätten sie gezwungen, sich nackt in den Schnee zu setzen, und sie dann mit kaltem Wasser übergossen. Neben solchen Misshandlungen dokumentiert der Bericht auch zahlreiche Fälle illegaler Ausweisungen.

„[…] gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“ – Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Trotz dieser klaren Verletzungen europäischer Rechte und Standards war EU-Ratspräsident Donald Tusk zuletzt voll des Lobes für die Grenzsicherung durch mehrere Westbalkanländer.

Ganz offensichtlich fördern die Europäische Union und viele ihrer Mitgliedstaaten eklatante Missstände bei der Behandlung Schutzsuchender oder nehmen sie billigend in Kauf. 

Dies zeugt nicht nur von erschreckender Kälte. Es steht auch in völligem Gegensatz zu dem, worauf sich die Europäische Union gründet: den unteilbaren Rechten und universellen Werten der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.

Sich dieser Werte wieder zu besinnen und gemeinsam danach zu handeln, ist dringend geboten. Im Jahr 2017 ist dies eine der wichtigsten Herausforderungen, vor der wir stehen: in einem Jahr, das sowohl durch Wahlen in verschiedenen europäischen Ländern als auch durch erstarkenden Nationalismus und zunehmende Fremdenfeindlichkeit geprägt ist. In einer Zeit, in der Rechtspopulist/innen Ängste schüren und gegen jeden hetzen, der anders ist oder anders denkt. 

Die Besinnung auf unsere europäischen Werte ist wichtig in einem Klima, in dem sich Worte festgesetzt haben wie: Flüchtlingskrise, Flüchtlingswelle, Strom oder Flut. Als wäre es eine Naturkatastrophe, die da kommt. Als wären es keine Männer, Frauen und Kinder in Not. Als wären es keine Menschen. 

„Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen“ – Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

[tweet:Wir brauchen eine auf europäischen Werten aufbauende Flüchtlings- und Migrationspolitik.]

Die Menschen, die bei uns Schutz suchen, müssen auf sicheren und legalen Zugangswegen zu uns kommen können. Wir müssen ihnen faire Aufnahmeverfahren ermöglichen und ihre Grundrechte sichern, ihnen mit Würde und Respekt begegnen. Wir müssen den Verfolgten Schutz gewähren und ihre Teilhabe in unserem Land ermöglichen. Und wir müssen stärker die Ursachen von Flucht und Vertreibung bekämpfen, indem wir gewaltsamen Konflikten vorbeugen, die weltweite Armut reduzieren und extreme soziale Ungleichheit beseitigen.

Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs hat Europa mit der politischen Einigung die richtigen Lehren gezogen. Diese Errungenschaften dürfen jetzt auf keinen Fall aus nationalem oder gesellschaftlichem Egoismus preisgegeben werden. Deshalb müssen wir der zunehmenden Abschottung und dem grassierenden fremdenfeindlichen Populismus etwas entgegensetzen: die Bewahrung von Grundrechten, Menschlichkeit und Solidarität.

Über die Autorin

oxfam-zuwanderung

Marion Lieser hat im Januar 2012 die Geschäftsführung von Oxfam Deutschland e. V. übernommen. Sie bringt Erfahrungen aus der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit genauso mit wie aus dem Profit- und Non-Profit-Sektor. Sie hat Sozialpädagogik/Sozialarbeit, Soziologie und Umweltwissenschaften studiert und war während ihres gesamten Berufslebens im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland und im Ausland tätig. Marion Lieser stammt aus Berlin. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.

Als internationale Nothilfe- und Entwicklungsorganisation unterstützt Oxfam Frauen und Männer in armen Ländern dabei, sich eine bessere Zukunft zu schaffen.  Seite an Seite mit Partnerorganisationen und der Bevölkerung vor Ort arbeitet Oxfam für ein großes, aber realistisches Ziel: Die extreme Armut weltweit abzuschaffen.