Biedermeier is Over

Trump & Co entfachen neuen Aktivismus. Wie kann ich mitmachen?

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by Alexander Wragge, May 16, 2017
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Ursprünglich erschienen 20. Februar 2017

‘Ich will etwas tun’. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann schon mal so viele Menschen das zu mir sagten. Flagge zeigen. Demokratie verteidigen. Die Gesellschaft suchen. Sich einbringen. Der tägliche Aktivismus ist das “neue normal”, schreiben Aktive des Women's March in den USA. Tatsächlich ist Politik momentan so allgegenwärtig, dass manche schon eine Pause fordern – und unter dem Hashtag  #SayAnythingNonPolitical Bilder von Katzen twittern. Und so eine glückliche Katze provoziert schon fast in einer Zeit, in der so Vieles in Frage steht: das weitgehend friedliche Miteinander der offenen Gesellschaft, die Demokratie und Gewaltenteilung, die Weltordnung …

Rausgehen, Menschen treffen

Bei allem Unbehagen, bei aller flauen Zukunftsangst, mit der nun Viele abends schlafen gehen, das ist die gute Nachricht: es bewegt sich was. Kaum eine Woche vergeht, in der sich nicht neue Menschen, Gruppen und Initiativen auf den Weg machen, die neue politische Rolle zu finden, höchstpersönlich einzugreifen. Dem aktuellen Geschehen einfach nur auf der Couch sitzend beizuwohnen, scheint man auch kaum zu ertragen.  Einige Beispiele:

Da nimmt ein Marketing-Experte eine Auszeit vom Beruf und beginnt Bücher zu lesen und Menschen zu treffen. Viel zu lang habe er sich von der Politik ferngehalten. Nun will er herausfinden, was hier eigentlich falsch läuft. Woher kommt die weit verbreitete System-Verdrossenheit?

Oder da beschließt ein Kollektiv von Fantasy-Autoren und -Fans mit einer Wandmalerei ein Zeichen gegen Angstmacherei und Hetze zu setzen. Die Idee: Aliens und das Fliegende Spaghettimonster werben für Toleranz und Vielfalt im Universum.

Oder da tun sich aktuell rund 20.000 Menschen in der Facebook-Gruppe #ichbinhier zusammen. Die Mission: Mit “Mut, Fakten und Freundlichkeit” in den sozialen Netzwerken kommentieren, Gerüchte, Fake-News und Hetze entkräften. Die eigene Bubble verlassen, den Fremdkontakt wagen.

Lange wurde lamentiert: den etablierten Parteien laufen die Mitglieder davon. “Die” Jugend bleibt weitgehend angepasst und desinteressiert. Die Ego-Gesellschaft hat nur Karriere und Knete im Sinn. Gemeinwohl, Solidarität, Mitgestaltung? Alles Worte mit Staubschicht drauf ...

Aktuell fragt sich eher, wer sich dem politischen Gespräch noch entziehen kann. Auf welcher einsamen Insel muss man leben, um sich keine neuen Gedanken um das Zusammenleben zu machen?

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Wer gerade merkt, etwas tun zu müssen, hat die eigene Reise schon angetreten. Fragen stellen. Rausgehen. Menschen treffen... Braucht es noch Ratgeber – bei der leicht recherchierbaren Vielfalt an Versammlungen, Online-Aktionen und Weltverbesserungs-Projekten? Ahnt nicht jeder selbst, was möglich wäre von der ersten Diskussion im Park bis zum Parteibeitritt? Manche Fragen des (neuen) Aktivismus sind allerdings Dauerbrenner. Sie für sich selbst zu beantworten, schadet nicht.

Klare Kante oder neues Verständnis?

Im Sinne der – hart erkämpften – demokratischen Grundwerte Haltung zeigen – das geht in jedem Gespräch, in der Kneipe, in der Bahn, beim Familienfest. Klare Kante ist wichtig, sollen die neuen Demokratie-Verächter nicht die Oberhand gewinnen. Doch reicht es einfach, sich auf die richtige Seite zu stellen? Ist nicht viel tiefer nachzudenken?

Ein Beispiel: Neulich in der Bahn wohnte ich einem Gespräch darüber bei, ob das spezifisch ostdeutsche System-Misstrauen nicht viele Vorgeschichten hat. Wurden DDR-Biographien nicht latent entwertet? War es nicht schlicht Mobbing, als Stefan Raab sich noch in den 90ern mit der TV-Nation darüber beömmelte, wie eine ältere Frau im “Unterschichten-TV” das Wort “Maschendrahtzaun” sächselt? War unsere Gesellschaft nicht viel zu lange auf Häme und Chauvinismus getrimmt? Blind für die Verlierer der Wende und des Wandels? Solche Themen sind für mich jetzt schon typisch für die große Gesellschafts-Therapie, die gerade eingesetzt hat.

Also klare Kante zeigen oder Verständnis üben? Es geht auch beides. Eine Haltung haben, wenn es drauf ankommt, und sich in Andere hineinversetzen, das Gespräch suchen.

Nur dagegen sein oder auch dafür?

Ich kann alle verstehen, die nicht länger zusehen wollen, wie neurechte Populisten das erreichte Maß an Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Aufklärung und Freiheit einkassieren. Der laute Protest ist wichtig. Was wäre bloß ohne ihn? Doch Vielen reicht es auf Dauer nicht, sich an den Gegnern der offenen Gesellschaft abzuarbeiten. Sie kommen zur Frage: ‘Für welche Zukunft setze ich mich ein?’. Und diese Debatte ist für mich gerade weit spannender als die täglichen Tweets des Donald Trump. Was entwickeln sich genau jetzt für neue Ideen im Sinne einer - mal kurz und kitschig gesagt - besseren Welt? Profitieren vom neuen Zeitgeist auch die vielen schon gestarteten Projekte, die zum Beispiel hier auf tbd* versammelt sind?

Neu starten oder Anschluss suchen?

Ich kann alle verstehen, die politisch ganz frische Wege gehen. Einen Freundeskreis zusammentrommeln, Ideen spinnen - vom Meme auf Facebook bis zur Groß-Demo. Alles auf Anfang. Ohne sich einpassen zu müssen, in bestehende Strukturen, Regeln, Hierarchien, in die gefürchtete Vereinsmeierei. Es macht schlicht glücklich, neu anzufangen. Es macht glücklich, frei und selbst zu bestimmen.

Andererseits: von oben betrachtet kann auch viel Energie verloren gehen, wenn immer alle von vorne anfangen, die nächste Facebook-Gruppe gründen, monatelang die nächste Webseite samt Manifest basteln. Es macht Sinn, erstmal bei den anderen politisch Aktiven am Ort vorbeizuschauen: bei den Flüchtlings-Cafes, den Partei-Ortsvereinen, den NGOs und Changemaker-Kollektiven. Vielleicht haben sie nur auf Dich gewartet, vielleicht kannst Du ihnen helfen und sie Dir – mit einem Netzwerk, mit Räumen & Erfahrung. Und vielleicht bieten sie mehr Freiraum als vermutet.

Klar ist: die menschenfreundliche Mehrheit in Deutschland und Europa kann am Ende gar nicht sichtbar genug auftreten. Sie braucht (europäische) Vernetzung und Zusammenhalt, um im allgemeinen Getöse nicht unterzugehen.

Einen Weg bietet hier auch die Initiative Offene Gesellschaft, für die ich tätig bin. Wir laden alle Freundinnen und Freunde einer offenen Gesellschaft ein, Gesicht zu zeigen und ganz eigene Aktionen einzubringen – vom politischen Speed-Dating bis zum Story-Telling-Abend. Übersichten zu weiteren pro-demokratischen Initiativen finden sich unter anderem hier und hier

Über den Autor

Alexander Wragge ist Redakteur und Koordinator der Initiative Offene Gesellschaft. Sie bietet den Menschen eine Bühne, die für eine offene Gesellschaft eintreten - für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Als Netzwerk von Privatpersonen, Gruppen und Organisationen verwandelt sie das Jahr vor der Bundestagswahl in 365 Tage für eine offene Gesellschaft, und zwar mit Aktionen aller Art.

Mehr unter: 

Webseite: www.die-offene-gesellschaft.de
Facebook: https://www.facebook.com/InitiativeOffeneGesellschaft/