Von „Growing up“ zu „Waking up“

Wie hängen persönliches Wachstum und spirituelle Erforschung zusammen?

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von Joana Breidenbach, July 6, 2017
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Perspektive #12: Dr. Joana Breidenbach ist Mitgründerin von betterplace.org und Gründerin des betterplace lab. Sie veröffentlichte bereits zwei andere Artikel zum Thema Wellbeing bei uns. 

Im ersten Teil meiner Artikelreihe zu individuellem Wohlergehen („Wellbeing“) und systemischem Wandel stand das Wellbeing-Programm für Sozialunternehmer im Mittelpunkt. Im zweiten Teil beschrieb ich wie innerer und äußerer Wandel zusammenhängen können und welche Modelle für persönliche Reifungsprozesse uns zur Verfügung stehen. In diesem letzten Teil möchte ich erforschen, wie persönliches Wachstum und spirituelle Erforschung zusammenhängen. Manche Autoren nennen diese beiden Dimensionen von Wachstum „growing up“ und „waking up“, d.h. „erwachsen werden“ und „erwachen“.

Zum Verständnis

Im Prozess von Growing up geht es darum sich zu einem möglichst ausgereiften, vollständigen Mensch zu werden. Waking up wiederum zielt darauf ab das konventionelle Menschsein zu transzendieren; sich immer weniger mit dem Ego zu identifizieren und stattdessen die Welt als Einheit zu erleben. Das erste ist der Bereich der Psychologie und Psychotherapie, das letztere der Spiritualität und Mystik.

Viele der Programme, Autoren und Coaches, die sich mit Wellbeing beschäftigen und vermehrt im Mainstream von Business und Lifestyle ankommen, propagieren Mindfulness und Meditation als zentrale Praktiken. Diese kontemplativen Methoden sind den verschiedensten Weisheitslehren – vom Christentum über den Islam (hier insbesondere dem Sufismus) bis zum Buddhismus entnommen. Insbesondere den Mystikern der verschiedenen Religionen dienten und dienen Versenkungstechniken wie Meditation, Gebet oder Stille als zentrale Erkenntnismethoden, die tiefere, empirische Einsichten über reines Bewusstsein, Schöpfung oder „Gott“ ermöglichen.

Wo bleibt die Spiritualität?

Heute begegnen sie uns jedoch meist im säkularen Gewand und werden zur besseren inneren Zentrierung oder äußeren Fokussierung propagiert. Ihre spirituelle, explizit vertikale Dimension wird dabei meist ignoriert. Dies gilt für das sich an Sozialunternehmer wendende Wellbeing Projekt ebenso wie für Mindfullness-Kurse, die seit einigen Jahren in Businesskreisen boomen (z.B. Google’s Search Inside Yourself). Viele Mindfullness-Befürworter, die sich selbst einer spirituellen Tradition zuordnen würden, halten diese aus ihrem Angebot für den Mainstream heraus. Zu groß scheint die Gefahr in die Nähe von Religion und New Age zu kommen und damit den Growing up-Pfad insgesamt zu diskreditieren.

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Das hatte Jon Kabat Zinn, der Begründer der Mindfullness-Bewegung, schon früh erkannt. Er entwickelte sein Mindfulness-Based-Stress-Reduction (MBSR) Programm für chronische Schmerzpatienten Ende der 1970er Jahre, auf Basis seiner eigenen buddhistischen Meditationerfahrungen, kappte aber die Verbindung zwischen der Meditationstechnik und ihrem spirituellen Kontext und verankerte sie stattdessen in der Wissenschaft (Kabat-Zinn ist Gründungsmitglied des Fetzer Instituts, das seit Jahrzehnten spirituelle Erfahrungen wissenschaftlich untersucht und auch das Wellbeing Projekt mit initiiert hat). Ebenso wie die Umbenennung von Meditation in Mindfulness, war dies eine bewusste Strategie um die Technik für möglichst viele Menschen akzeptabel zu machen.

Mein Leben ein Mysterium

So sehr ich diese Vorgehensweise verstehen kann, so sehr nimmt sie für mich die positive Spannung und den „Sog“ aus der Wellbeing- und Mindfulness-Szene.

[tweet:Mir erscheint das Leben inklusive meines Menschseins als großes Mysterium...]

Mir erscheint das Leben inklusive meines Menschseins als großes Mysterium, welches nicht alleine durch natur- und sozialwissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse erklärt werden kann. Wenn ich mein eigenes Wellbeing erforsche, beinhaltet dies unweigerlich auch die Frage nach dem Ursprung und Sinn meines/des Lebens an sich.

Auch wenn ich in vielen Meditationen nur mit meinen Alltagsgedanken und -wahrnehmungen beschäftigt bin, eröffnen sich mir immer wieder neue Erfahrungsräume jenseits der psychologischen und rationalen Selbsterfahrung. In der kontemplativen Stille erlebe ich was mich „zieht“ und motiviert. Ich erfahre Momente großer Intuition und Kreativität, ebenso wie Zeiten magnetischer Stille, in denen das diskursive Denken vollkommen aufhört.

Waking up ist für die meisten Menschen ein langjähriger, lebenslanger Prozess und die wenigsten Praktizierenden dürften jemals non-duale Zustände erreichen, d.h. Momente, in denen sie die Einheit der Welt und den ursprünglichen Schöpfungsimpuls erfahren.

Uns stehen aber vielfach validierte Beschreibungen der unterschiedlichen Bewusstseinszustände von den verschiedensten Mystikern zur Verfügung, die Meditierenden als Orientierung dienen können. So sprechen alle großen Weisheitstraditionen von vier Hauptstufen des Bewusstseins: Grobstofflicher Wachzustand (unser Alltagsbewusstsein, uns allen zugängliche Beobachtung von Materie und Struktur, Gedanken und Gefühlen), subtile oder feinstoffliche Wahrnehmung (immer verfeinerte Wahrnehmung von Energieflüssen etc.), kausales Bewusstsein (vergleichbar dem traumlosen Tiefschlaf, in dem statt Objekten nur mehr reines Bewusstsein auftaucht) und Non-Dualen Zustand.

In der Meditationspraxis, der ich folge (mit dem spirituellen Lehrer Thomas Hübl) fokussieren wir uns auf Stille/Raum einerseits und Bewegung/Energie andererseits. Die beiden hängen eng zusammen: ist mein innerer Raum eng werde ich von Erfahrungen und Gefühlen (wie Angst oder Wut) leicht überflutet. Ist mein Raumempfinden größer, findet die Wut oder Angst immer noch statt, ist aber nur eine Empfindung neben anderen. Ich habe die Distanz sie zu beobachten und sie kann schneller wieder verschwinden. Je mehr Raum/Stille mir zur Verfügung steht, desto bewusster werden mir auch die vielen kognitiven und psychologischen Filter, durch die ich die Welt wahrnehme. Und je mehr Filter ich transzendiere, desto direkter kann ich mich und meine Umwelt erfahren. Diese Unmittelbarkeit erzeugt ein starkes Gefühl von „Flow“; einen direkten Zugang zu Glück und Sinnhaftigkeit, denn man fühlt sich mitten im Strom des Lebens verankert.

Wellbeing ohne Einbezug dieses spirituellen Erfahrungshorizontes ist für mich nur halb so spannend. Deshalb wünsche ich mir, dass mehr Protagonisten der Wellbeing und Meditationsbewegung radikaler und mutiger zu der vertikalen Dimension von Wachstum stehen, statt ihren Kunden Kontemplation und Selbsterfahrung mit gesteigerter Effizienz und dem RoI (Return on Invest) schmackhaft zu machen.

Über die Autorin

Joana-breidenbach

Joana Breidenbach ist promovierte Kulturanthropologin und Autorin zahlreicher Bücher zu den kulturellen Folgen der Globalisierung, Migration und Tourismus. Etwa: Tanz der Kulturen (Rowohlt 2000), Maxikulti (Campus 2008) und Seeing Culture Everywhere (Washington Press 2009). Joana Breidenbach ist Mitgründerin von betterplace.org und Gründerin des betterplace lab.

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tbd* ist ein digitales Zuhause wo Menschen, wie du Best-Practices teilen und von anderen lernen können, die ebenfalls mit Weltverbessern Karriere machen.

Zum Launch haben wir daher Top DenkerInnen und MacherInnen unter den WeltverbessererInnen - also die Menschen, die uns jeden Tag aufs Neue inspirieren und motivieren - gebeten, einen Artikel für uns zu schreiben. 

Wir stellen vor die Serie: Perspektiven. Wir haben diesen sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten aus diversen Branchen und Sektoren freie Hand gegeben. Sie sollten darüber schreiben, was sie gerade - im Jahr 2017 in Deutschland - persönlich oder gesellschaftlich bewegt. Was zurück kam hat uns schwer beeindruckt und berührt. Danke dafür!