Auf Obamas Spuren

Demokratie praktisch leben: Community Organizing in Deutschland.

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von Marionka Pohl, May 22, 2017
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Laut dem Schweizer Ökonom Bruno S. Frey liefert die aktuelle Glücksforschung Hinweise darauf, dass die Lebenszufriedenheit der Menschen unmittelbar mit ihren Möglichkeiten zur demokratischen Mitsprache und politischen Teilhabe zusammenhängt. Uns als Teil dieser Gesellschaft zu fühlen, ist also entscheidend für unser ganz persönliches Glücksgefühl. Dass sich viele Menschen in Deutschland, Europa und in der Welt nicht als Teil ihrer jeweiligen Gesellschaft fühlen, zeigen AfD, Brexit, Trump & Co.

Raus aus der Komfortzone

Demokratie ist kein Selbstläufer. Es gilt sich für sie einzusetzen, gerade jetzt. Politikverdrossenheit, steigender Rechtspopulismus und das zunehmende Auseinanderdriften der Gesellschaft in verschiedene ethnisch-religiös bestimmte Gruppen und sozioökonomische Schichten sind deutliche Alarmsignale. Es gilt Möglichkeiten zur Begegnung zwischen Menschen unterschiedlichster religiöser, sozialer und gesellschaftlicher Hintergründe zu schaffen.

Es gilt Menschen, die sich bisher am Rande der Gesellschaft befunden haben ins Boot zu holen. Wer, wenn nicht sie selbst, hat die Expertise für gesellschaftliche und soziale Missstände vor Ort. Es gilt unterschiedlich denkende Menschen an einen Tisch zu bringen und gemeinsame Problemlagen und Ziele zu identifizieren, Gemeinsamkeiten statt Unterschiede in den Mittelpunkt zu stellen und Wege zum gemeinsamen politischen und sozialen Engagement zu schaffen.

Community Organizing

Community Organizing (CO) bietet einen politischen Handlungsansatz um diese Brücken zu schlagen. Was ist CO und warum ist es in der heutigen sozialen und politischen Lage ein Instrument, das Perspektiven stiften kann? CO ist ein Handlungsansatz zur Aktivierung, Beteiligung und politischen Bildung von Menschen jenseits der privilegierten Eliten, der vom US-amerikanischen Bürgerrechtler Saul D. Alinsky (1909-1972) entwickelt worden ist. 

Prominentester Vertreter des CO in unserer Zeit ist Barack Obama, der vor seiner politischen Laufbahn aktiv als Organizer in den Ghettos seiner Heimatstadt Chicago gearbeitet hat und viele der Mobilisierungsmethoden des CO in seinem Wahlkampf 2008 eingesetzt hat. CO ist ein überkonfessioneller, integrativer, basisdemokratischer, unparteiischer und staatlich unabhängiger Ansatz.

In Deutschland wird das CO seit den 90ern von Parteien und Gewerkschaften, zum Teil auch Wohlfahrtsverbänden und anderen Organisationen umgesetzt. Rein zivilgesellschaftliche begründete Initiativen des CO gibt es hierzulande bisher nur in Form der Bürgerplattformen. Aktuell gibt es davon drei in Berlin (Neukölln, Wedding/Moabit und Schöneweide/Treptow-Köpenick), eine in Köln und eine weitere im Aufbauprozess in Berlin Spandau.

Was sind Bürgerplattformen und was tun sie?

Eine Bürgerplattform ist ein Zusammenschluss aus zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort (Gemeinden, Moscheen, Schulen, Sportvereine etc.), in dem sich Menschen verschiedener Herkunft, Religion, Bildungshintergründe und Interessen gemeinsam engagieren. Das Management dieses Prozesses liegt in den Händen eines/r professionellen Organizers/In. Die Basis jedes Organizing-Projekts ist die persönliche Beziehung zwischen dem Organizer und den gesellschaftlichen Gruppen vor Ort. Diese werden durch zahlreiche Einzelgespräche mit den betreffenden Menschen aufgebaut, in denen die Interessen der einzelnen Organisationen/ Menschen erfragt werden.

In den Bürgerplattformen arbeitet der Organizer mit den drei Schritten der Aktivierungsmethode des CO: Zuhören, Recherchieren, Handeln. Im Zuge dieses Prozesses entwickeln die Menschen vor Ort in einer Stadt, einem Bezirk oder Stadtteil gemeinsam eine Kampagne. Nach gemeinsamer Recherche und Aushandlungsprozessen untereinander, werden große Problemlagen in fassbare politische Themen konkretisiert. Ein Thema muss realistisch, durchführbar und von der Mehrheit in der Bürgerplattform getragen sein.

Im nächsten Schritt identifizieren Bürgerinnen und Bürger mit der Unterstützung des Organizers Verantwortliche in Politik, Verwaltung und Wirtschaft, entwickeln Strategien zur Umsetzung ihren Themen und verhandeln mit Entscheidungsträgern über ihre Lösungsvorschläge. Hierdurch erreichen Menschen vor Ort positive Entwicklungen und können politische Selbstwirksamkeit erfahren. Die Mitglieder einer Bürgerplattform entwickeln dabei selbst ihre politische Agenda und finanzieren den Prozess (inklusive öffentlicher Veranstaltungen, Kampagnen und dem Gehalt des Organizers) durch Spenden und Mitgliedsbeiträge.

Community Organizing versteht sich als „Schule der Demokratie“. Eine Schule, die wir gerade als denn je brauchen.

Als Methode bedient sich das CO spezifischer Prinzipien:

  1. Beziehungen vor Themen: Im CO stehen Beziehungen vor Themen. Das bedeutet konkret: In einer neuen Bürgerplattform werden erst Beziehungen und Vertrauen zueinander aufgebaut, bevor die Menschen sich ihren Themen zuwenden. Warum? Persönliche Beziehungen sind der Kitt menschlicher Gemeinschaft. Das wechselseitige Vertrauen und die nachhaltig aufgebauten Beziehungen zwischen den Menschen in der Bürgerplattform ermöglichen ihnen - trotz zum Teil widersprechenden politischen und sozialen Haltungen - Kompromisse zu schließen. Dadurch arbeiten unterschiedlichste Menschen dauerhaft und auch über schwierige Phasen hinweg zusammen. Einfach ist das nicht. Praktisch bedeutet dies: statt der gegenseitigen Unterschiedlichkeit den gemeinsamen Nenner sehen. Das braucht Einsatz und entsprechenden Biss, aber schafft immer wieder Dialog, Verständnis und Toleranz.
  2. Dauerhaftigkeit & Offenheit: Die Menschen in Community Organizing-Projekten arbeiten dauerhaft zusammen. Die älteste deutsche Bürgerplattform im Berliner Südosten zum Beispiel ist mittlerweile 17 Jahre alt! Durch die langfristige Beziehungsarbeit gibt es eine stabile Basis, um immer wieder neue Themen aus den Gruppen heraus zu entwickeln. Das kann z.B. das Projekt zur Einrichtung eines islamischen Friedhofs sein, die Sanierung des Spielplatzes im Kiez, die Entwicklung eines Wohnprojekts mit bezahlbaren Mieten o.ä. Im Unterschied zu rein projekt- und themenfokussierten Initiativen bleiben die Menschen nach Abschluss eines Projekts an Bord und schauen gemeinsamen nach neuen Fragen und Themen, die die Gemeinschaft betreffen. CO richtet sich an alle Menschen vor Ort und versucht daher monothematische Fixierungen zu vermeiden, damit alle Interessen (die langfristigen, großen, aber auch die vermeintlich kleineren) Eingang in die politische Agenda finden können.
  3. Selbst Verantwortung übernehmen: Selbst politischer Akteur zu sein, heißt sich nicht als passiver Empfänger der vielen Herausforderungen (Arbeit, Familie, Gesellschaft etc.) wahrzunehmen, sondern Eigenverantwortung zu übernehmen. Dies ermächtigt zu selbstwirksamen Erfahrungen: Ich selbst kann etwas bewegen. Gemeinsam mit anderen arbeite ich an konkreten Themen, die mich persönlich und unmittelbar betreffen. Dabei erreiche ich sichtbare und konkrete Verbesserungen in meinem direkten Umfeld. Diese Haltung macht lebendig und aktiv, sie macht Spaß, sie bringt uns mitten in die Gesellschaft hinein. Sie ist eine menschennahe, unmittelbare, gelebte Form von Demokratie, die sich nicht damit zufriedengibt, „nur“ alle paar Jahre sein Kreuzchen bei einer Wahl zu setzen.

Über die Autorin

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Als Community Organizerin bei den Berliner Bürgerplattformen treibt Marionka die Frage an, wie Zivilgesellschaft sozial und politisch handlungsfähig werden kann. Aktuell baut sie für das Deutsche Institut für Community Organizing (DICO) die vierte Bürgerplattform in Berlin-Spandau auf. Sie coacht Menschen dabei ihr soziales, politisches und persönliches Potential zu entwickeln und auszuschöpfen.

Vor ihrer Tätigkeit als Community Organizerin arbeitete Marionka als wissenschaftliche Mitarbeiterin für einen sozialdemokratischen Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Sie studierte European Studies and Languages (Französisch & Russisch) in Bath, UK (BA) und Internationale Beziehungen (MA) in Berlin und Potsdam. 2015 bildete sie sich zur Zertifizierten Stiftungsmanagerin (Deutsche StiftungsAkademie) weiter. Marionka hat Ausbildungen in Aufstellungsarbeit und Gestalttherapie absolviert.

Mehr über die Bürgerplattform Spandau im Aufbau und Bürgerplattformen im Allgemeinen findest Du unter: https://www.aufbaubuergerplattformspandau.de